Buchcover
Julien Gracq

Der Versucher

Roman
2014
gebunden , 13 x 21 cm
232 Seiten
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig
ISBN: 9783854209522
€ 23,00

AUTOREN

Textauszug

Ich lasse die vor dem Amphitheater des Strandes aufgereihten Villen hinter mir und gehe auf den unter den Bäumen versteckten Straßen entlang, auf dem sanften braunen, von den Kiefernnadeln und vom Sand gedämpften Boden. Eine mehrdeutige Stille breitet sich aus, sobald man vom Strand abbiegt. Im Herzen der grünen Hohlwege der Straßen vernimmt man das Rauschen des Meeres nur andeutungsweise, es berührt wie das Getöse eines Aufstands, das man weit hinten in einem verschlafenen Vorstadtgärtchen vernimmt. Vor dem dunkelgrünen, mineralischen Hintergrund der Kiefern und der Zedern lodern plötzlich die Birken und Pappeln auf, verdichten sich zu einem schwebenden, goldenen Rauch und lassen ihre roten Flammen dahinlaufen wie die Flammenraupen auf einem brennenden Blatt Papier. Die Tage rücken näher, an denen das große Grau des Meeres diesem ganzen Dekor seine grundlegenden Harmonien zurückgeben wird – eine feine Pigmentierung greift da und dort um sich, Pfütze um Pfütze – das Salz bleicht den Verputz der Mauern und belebt das Eisen der Gitter mit einem grellen Rot, der Meereswind sandstrahlt durch die Türschlitze die Böden – eine plötzliche, ungewöhnliche Überschreitung hinterlässt auf der Kleinstadt, die hart ist und grau wie das Salz und die Korallen, die rätselhaften dunklen Spuren eines kalten Brandes, einer trockenen Flutwelle.
An manchen grauen, verschlossenen Nachmittagen, die unter einem hoffnungslos unbewegten Himmel dahinvegetieren wie unter der dürftigen Feerie der Glasdächer eines Wintergartens und ohne die changierende Haut auskommen müssen, die ein Geschenk der Sonne ist und ihnen recht und schlecht einen Anschein von Leben verleiht, steigt das Gefühl der allmächtigen Unnahbarkeit der Dinge bis zum Grauen in mir hoch. So habe ich mir manchmal auch vorgestellt, ich schleiche nach dem Ende der Vorstellung um Mitternacht in ein leeres Theater und erblicke von dem dunklen Saal aus ein Bühnenbild, das sich zum ersten Mal weigert mitzuspielen.

Julien Gracqs zweiter Roman (im Original Un beau ténébreux) wurde 1945 veröffentlicht und erscheint nun, fast 70 Jahre später, als letzter seiner großen Prosatexte zum ersten Mal in deutscher Übersetzung.

Ein vornehmes Strandhotel in der Bretagne. Unter den Gästen der Literaturwissenschaftler Gérard, der an einer Studie über Rimbaud arbeitet und uns in seinem Tagebuch über die anderen Gäste informiert. Die träge Ferienstimmung verändert sich mit einem Schlag, als ein neuer, faszinierender, intelligenter wie schöner Gast in Begleitung einer ebenso schönen Frau auftaucht, die Anwesenden in seinen Bann zieht und die Anordnung der Paare und die Ordnung der Gefühle durcheinanderbringt. Gracq greift die von den Surrealisten geführte Debatte um den Selbstmord auf und verwandelt sie in ein philosophisch-romanhaftes Geschehen. Aber nicht nur der Surrealismus wird evoziert, sondern zahlreiche weitere intertextuelle Verweise auf die französische und die deutsche Literatur durchziehen den Roman.

Vor allem aber ist Gracq in diesem Werk bereits der Meister der atmosphärischen Landschaftsschilderungen, der ungewissen Stimmungen, einer Naturromantik von enormer Intensität, bei der Präzision und Phantasie untrennbar ineinander verwoben sind.

Presse

»Der Versucher ist ein literarisches Juwel, das mit der Zäsur des Jahres 1945 wesentliche Denkansätze zusammenfasst und fortschreibt, ein Roman, der einen Wendepunkt der Literaturgeschichte markiert:« (Isabella Pohl, Der Standard)

»Ein flirrendes, schillerndes Netz aus latenter Erotik, Zweifeln, Eifersucht und Konkurrenzgefühlen.« (Thomas Palzer, Deutschlandradio Büchermarkt)

»Die Bretagne, wo Gracq als Kind die Ferien verbrachte, ist auf jeder Seite präsent, ist zu schauen, zu riechen, zu schmecken.« (Gisela Trahms, Literarische Welt)

»Eine Fülle von brillanten Formulierungen, die den Leser immer wieder innehalten lassen.« (Eberhard Geisler, taz)

»Der Roman lohnt allein schon aufgrund seiner wunderbaren Landschaftsbeschreibungen, in denen Gracq die bretonische Küste zum Inbild von Melancholie und Vergänglichkeit stilisiert.« (Anja Kümmel, Fixpoetry)

»Gracq und diesen, seinen wohl besten Roman lesen, heißt, die äußeren und inneren Landschaften so zu erleben, als wäre man dabei.« (Jörg Aufenanger, Berliner Zeitung)

»Immer wenn man das Gefühl hat abzustumpfen, sollte man ein paar Seiten Gracq lesen, um Blick und Denken zu erfrischen.« (Übersetzer Dieter Hornig in einem Gespräch mit Gisela Trahms, Volltext)

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