Buchcover
Gerald Bisinger

Ein alter Dichter

Gedichte
1998
gebunden , 13 x 21 cm
100 Seiten
Mit einem Geleitwort von H. C. Artmann
ISBN: 9783854204794
€ 15,50

AUTOREN

Textauszug

Wortmaterial

So also bewege ich Wortmaterial in
meinem Bewußtsein schreib auf nichts
ohne Struktur in diesem türkischen
Beisl am Brunnenmarkt dunkelviolette
pralle Melanzane hab nicht ich gekauft
auch kein Stück von den aufgeschnitte-
nen Wassermelonen sichtlich saftstrotzen-
den frischen Knoblauch sah ich mit Freude
es liegt solcher zu Haus auch in der Kü-
che ein Stück Gorgonzola erwarb ich
schreib jetzt schau auf die Armbanduhr
ob noch Zeit bleibt zum Kauf eines Kilos
Tomaten ehe die Stände abgebaut werden
doch weiß ich wie lang ich noch brauche
dieses Gedicht zu beenden das Bier auszu-
trinken das in vollem Glase vor mir steht

Wortmaterial beweg ich in meinem Bewußt-
sein am Wirtshaustisch hier zwing ichs in
eine Struktur vereinzelt und nicht schrift-
lich fixiert bleibt es angesichts bunter
Fülle von Obst- und Gemüsesorten an denen
vorbei auf dem Markte ich gehe die Namen
von Käsesorten muß ablesen ich oft von der
Beschilderung viele fallen nicht ein mir
spontan beim Anblick der Ware manche kannte
bisher ich nicht einen Schluck Bier trink
ich gelegentlich und hör auf jetzt mit dem

Schreiben an diesem Gedicht
Wien, den 29. Mai 1992

Gerald Bisinger, »ein alter Dichter« aus Wien, legt Rechnung ab über die Jahre 1991 bis 1993, in Form von Gedichten. Wer seine lyrische Arbeit über die Jahrzehnte verfolgt hat, kennt seine spezielle Topografie: die Orte dieser (meist) langen Gedichte sind Mitteleuropa – Berlin, Wien, Bratislava, Linz an der Donau, Graz –, sind die Eisenbahnen und Bahnhofsgaststätten, sind Kneipen und Wirtshäuser; ihre Zeit sind die Momente des Wein- und Biertrinkens, des Zigarettenrauchens, des Wartens, des Spazierengehens, des Erinnerns. Bedeutungslosigkeit, Vergänglichkeit, und auch die dem Vergessen kurz entrissenen kleinen Genüsse sind ihr elegisch besungenes Thema.

Oder in einer Formulierung von Klaus Reichert: »Was immer er isst, was er trinkt, was er absitzt und abschreitet, was er schleppt, was er schwitzt, was er liest, was er hasst, was er hört, es wird mehr oder weniger sofort zum Gedicht. Es wird nicht verwertet (›ausgeschlachtet‹), sondern es wird verwandelt.«

Top