Buchcover
Henri Michaux

Erkenntnis durch Abgründe

1998
engl. Broschur , 15 x 21 cm
256 Seiten
Übersetzt und mit einem Nachwort von Rainer G. Schmidt.
ISBN: 9783854204985
€ 23,00

AUTOREN

Textauszug

Zuhause angekommen nahm ich dann eine bestimmte Situation wahr, deren Hauptbestandteil durch das Wort »Distanz« bestimmt war, das ich niederschrieb. Als ich es geschrieben hatte, warf es auf magische Weise die Hülle seines Sinns ab, bis es bar jeder Bedeutung war; entledigte sich dann seiner Nachbarbedeutung, die ich bei ihm bemerkt hatte, als ich die Überlegung zu der Situation niederschrieb, die ich übrigens nicht mehr wiederfinden konnte; entledigte sich dann der Bedeutung, die es gewöhnlich für mich hat. Es blieb vorhanden, aber unkenntlich. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als null und nichtig zu werden. Was es wurde. Es hatte jetzt keinen Sinn mehr, wie man es auch drehte und wendete. Doch als der Sinn das Wort verließ, ließ er sich in mir nieder und verlieh mir im Nu, zur Gänze und in schauspielerischer Weise den Charakter eines distanzierten Menschen. Und ich war auch selbst so distanziert zu mir, daß ich Mühe hatte, mich mir zu nähern. Die Unterschlagung des Sinns hatte bewirkt, daß sich der Sinn auf meiner Person ausbreitete

Ich hatte also zu Unrecht geglaubt, daß ich den Sinn des Wortes verloren hatte, wo ich doch nur bestimmte Verbindungen mit dem Sinn verloren hatte, die nützlichsten allerdings. Doch er dauerte fort, blieb in Gang. Der Sinn gehört nicht dem, der ihn denkt. Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, einen Gedanken verschwinden zu lassen. Seine Lebenskraft bewahrt ihn, läßt ihn in die Tiefe steigen, in andere Stromkreise, von wo aus er auf diese oder jene Weise wieder in Erscheinung treten kann und wird.

Erkenntnis durch Abgründe erschien 1961 als letztes der sogenannten Drogenbücher von Henri Michaux, nach Unseliges Wunder (1956) und Turbulenz im Unendlichen (1957).

Doch, anders als bei den Vorläufern, liefert Michaux hier nicht so sehr exakte Protokolle von Drogenexperimenten, vielmehr versucht er eine Phänomenologie und Systematisierung der Visionen zu erreichen, die unter dem Einfluss von Meskalin, Psilocybin und Haschisch auftreten, wie etwa Visionen von Ornamenten, Grimassen, Ruinen, Bergen, Minaretten, von Tieren, deren Hälse sich fantastisch verlängern. Doch viele der Visionen erweisen sich als »unübersetzbar«, Benennendes und Benanntes klaffen auseinander, die Unzulänglichkeit der Sprache neuen Erfahrungen gegenüber wird unübersehbar. Im Haschischrausch treten Sprachfetzen punktuell und mit hoher Beschleunigung auf, während ihr Sinn »verreist« ist. Michaux versucht, diese »Sprachbildpunkte« (»Rege punktiere ich, das ist mein Job«) aufzuzeichnen und gelangt so zu einem »langen« Gedicht, dem Kernstück des gesamten Buches.

In einem zweiten Teil des Buches, »Abgrund-Situationen«, setzt Michaux die durch Drogen künstlich erzeugten Zustände mit den Wahnbildern und Verhaltensweisen Geisteskranker in Verbindung. Extremfall ist die Katatonie, bei der es zu einem vollständigen »arrêt«, Stillstand, gekommen ist – ein Topos, der das ganze Buch durchzieht.

Presse

»Von einem Meister der Zeichnung erhält man Aufschlüsse über die Formenwelten der verschiedenen Drogen, die an Genauigkeit bislang nicht überboten wurden.« (FAZ)

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