Buchcover
Franz Josef Czernin

Dichtung als Erkenntnis

Zur Poesie und Poetik Paul Wührs
1999
kartoniert , 11,5 x 18 cm
84 Seiten
ESSAY 37
ISBN: 9783854205098
€ 11,50

AUTOREN

Textauszug

Was ist das für eine Sprache, die erlaubt, mit einer Folge von Zeichen mehrere und manchmal noch dazu einander widersprechende Wahrheiten oder Erkenntnisse auszudrücken? Und was sind das für Wahrheiten oder Erkenntnisse, die, auch wenn sie einander widersprechen, in denselben Buchstaben beziehungsweise Sätzen ausgedrückt werden können?

Und was wäre mit jenem Widerspruch zur üblichen Form des philosophischen Wahrheitsanspruchs in Hinblick auf mögliche Erkenntnis gewonnen? Normalerweise schließen die Wahrheiten, die Erkenntnisse einander logisch aus oder bleiben als Gegensätze einander gegenüber, oder, wenn sie in keinen deutlich logischen Verhältnissen zueinander zu stehen scheinen, verdrängen sie einander. Wenn ich über eines rede, heißt es, dann soll ich nicht zugleich über etwas anderes reden. In Wührs Gedichten aber werden Zeichen so gebraucht, daß, im Gegenteil, nicht nur ein einziger, alles andere ausschließender oder verdrängender Sinn evoziert wird, sondern immer gleich mehrere: eine Konstellation von Bedeutungen, die einander hervorrufen und die aufeinander angewiesen sind. Der Erkenntnisgewinn bestünde demnach darin, daß mehrere Wahrheiten sich in ihrer Abhängigkeit voneinander, in ihren Beziehungen zueinander entfalten und zeigen können.

Ein solcher Wahrheitspluralismus kann Folgen für das Verständnis des philosophischen Erkenntnis- und Wahrheitsbegriffs haben […] Der philosophisch-theoretische Erkenntnis- und Wahrheitsbegriff, der für einen bestimmten sprachlichen und sachlichen Zusammenhang nur eine Wahrheit zuläßt, wird dann zugunsten eines Wahrheits- beziehungsweise Erkenntnisbegriffs aufgegeben, der für einen sprachlichen und sachlichen Zusammenhang mehrere, ja sogar widersprüchliche Wahrheiten zuläßt. Das philosophisch-theoretische Denken erscheint somit als partielles oder spezialisiertes Denken, das poetische Denken dagegen als umfassender oder universeller, es kann als das begriffen werden, was – wie eine bekannte Redeweise der Ästhetik es ausdrückt – auf das Ganze aus ist und das philosophisch-theoretische Denken als einen seiner Fälle enthält.

Was Franz Josef Czernin seit jeher an Dichtung bzw. an Kunst allgemein interessierte, ist eine Frage, die in der modernen Unterhaltungswelt der Literatur immer unpopulärer wird: die Verbindung von Ästhetik und Erkenntnis; »der Anspruch, daß das Gedicht eine Form des Denkens sei und – diese Verbindung ist keineswegs selbstverständlich – zugleich eine Form von Erkenntnis.«

Das Niveau, auf dem Czernin über Gedichte reflektiert, und die detailgenaue Aufmerksamkeit, die er dem konkreten Text widmet, um von ihm aus erst zu einer möglichen Poetik zu gelangen, ist im zeitgenössischen Sprechen über Lyrik (sofern es denn eines gibt) äußerst selten. Zwar spricht Czernin über einige späte Gedichte von Paul Wühr, aber gleichzeitig ist immer auch das eigene Werk mitgemeint, gelten seine Fragen jeder Art von Dichtung, die Ansprüche an sich stellt und ihre Sache ernst nimmt, einer Dichtung, die das schwierige Verhältnis von philosophisch-theoretischer einerseits zu poetischer Erkenntnis andererseits mitreflektiert.

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