Buchcover
László Garaczi

Die wunderbare Busfahrt

Bekenntnisse eines Lemuren
1999
engl. Broschur , 15 x 21 cm
248 Seiten
Aus dem Ungarischen von Andrea Seidler und Pál Deréky.
ISBN: 9783854205234
€ 19,00

AUTOREN

Textauszug

Es blieb noch Zeit für Unterhaltungen anderer Art: das Jäten einzelner Körperhaare, das möglichst tiefe Einreißen der Fingernägel, das Umstülpen der Augenlider, sperrige Gegenstände (Maiskolben, quer) in den Mund zwängen, das Kniegelenk krachen lassen, mit den Ohren wackeln, mit den Fingergliedern knacken, ständige Rülps-Bereitschaft, Furz-Bereitschaft, Anzünden von Darmwinden beziehungsweise Lagerung derselben in Arznei-Fläschchen, dasselbe Verfahren mit Spucke, Tränen, anderen Körpersäften, und Gerülpse. Weitspucken, Hochspucken, mit offenem Mund wieder auffangen, nochmal hochspucken. Pfützen spucken: dauert eine halbe Stunde, man trocknet bis in den Magen aus. Vor dem Spiegel Grimassen üben, sie während der Stunde schneiden, wenn der Lehrer nicht hersieht, schielen, röcheln, mit geschlossenem Mund bauchreden. Die Zunge heraushängen und austrocknen lassen. Ohren nach vorne biegen, festkleben, überprüfen, ob sie sich wieder aufrichten. Schweigegelübde. Schreiben mit der linken Hand, Schuhbänder mit den Zehen einfädeln. Brennendes Zündholz in der Mundhöhle ausmachen.
Ich schlinge meine Extremitäten um Lehne und Beine des Stuhles, ich stecke die Hände in die Hosentaschen und wippe stundenlang. Ich schleppe mich enerviert dahin, total lässig, »du kreuchst wie eine bleierne Laus«, schimpft Tante Klári.
Ich zeichne Spartakus, wie er sich vom Vesuv an einem Hanfseil herunterläßt, um die römische Legion von hinten anzugreifen. Er hängt in der Luft wie Niki Gyulay mit seinem flaumigen Pimmel in der Turnstunde. Schlachtszenen, Comics, wildromantische Landschaftsbilder. Mit einem Strich gezeichnete Lehrer-Karikaturen. Am schwersten ist es, eine Hand zu zeichnen, ich zeichne mit der zeichnenden Hand meine nicht-zeichnende Hand, habe hundertmal mit meiner zeichnenden Hand meine nicht-zeichnende Hand gezeichnet, es ist mir nie gelungen.

Einer der wichtigsten Vertreter der jüngeren ungarischen Schriftstellergeneration erinnert sich an Kindheit, Jugend und Heranwachsen, an Schule und Sex, an Paraden und Drogen, an Busausflüge und Sekretärinnen mit Haarknoten, an den Gulaschkommunismus der 50er, 60er und 70er Jahre.

Mit unnachahmlichem Witz durchdringen sich auf diesen Seiten das Private und das Gesellschaftliche. »Kann es sein, daß das stolze Schiff des Kommunismus hier, an dieser Klippe, leckschlug?« – diese Frage stellt der Erzähler mit Blick auf seine private Familiengeschichte, die reich ist an komischen Käuzen und schrägen Episoden, aber auch voll ungerührter Grausamkeit und Brutalität.

»Ich bin Schriftsteller geworden, weil ich Angst hatte zu verfetten« – Garaczi schrieb mit diesem (im Original in zwei Bänden erschienenen) Werk eine Hymne auf die Anarchie der Kindheit, ohne sie an irgendeiner Stelle zur Idylle zu verharmlosen, im Gegenteil: Dieser Blick zurück ist schockierend unerschrocken und tut nicht selten weh. Die gesellschaftliche Tünche liegt nur dünn über der Widerständigkeit des Individuellen. »Bravsein und Gehorsam sind zwei unausrottbare Zwangsvorstellungen der Erwachsenen, anderenfalls verhauen sie einen. Außer Eltern fürchtet man Polizisten, Rauchfangkehrer, Lumpensammelnde Zigeuner, das Jesulein, das den schlimmen Kindern die Zunge abschneidet, und den Friseur.«

Presse

»Hier liegt ein wunderbares Buch vor.« (Zsuzsanna Gahse, SZ)

»Ein wüstes und charmantes Buch, das die Kindheit in einer witzigen, zuweilen aphoristisch geschärften Sprache neu erfindet.« (Karl-Markus Gauss, FAZ)

»Eine Mischung aus Melancholie und Fröhlichkeit, aus Bitterkeit und Zorn. (…) keine ›erwachsene‹ Prosa, schon gar keine niedergewachsene. Garaczi hält an der Unordnung der Kinderwelt fest.« (Martin Ebel, NZZ)

»Garaczi gibt uns mit Witz und Furor Bilder, wie wir sie seit – wann auch immer, vielleicht seit Jean Paul nicht mehr gelesen haben: Große Literatur.« (Guido Graf, Basler Zeitung)

Top