Buchcover
Jesper Svenbro

Ameisenwege

Figuren der Schrift und des Lesens in der griechischen Antike
2000
kartoniert , 11,5 x 18 cm
136 Seiten
ESSAY 41. Aus dem Schwedischen von Lukas Dettwiler
ISBN: 9783854205517
€ 15,00

AUTOREN

  • Jesper Svenbro

Textauszug

Wenn das geschriebene Wort in seiner Stummheit unvollständig ist, heißt das, daß es eine Stimme finden muß, die ihm akustische Form geben kann. Der Schreibende rechnet damit, daß ein Leser kommen wird, der seine Stimme dem geschriebenen Wort zur Verfügung stellt, der willig ist, seine eigene Identität aufzugeben und seine Stimme einer sprachlichen Mitteilung zu leihen, mit der er vielleicht gar nicht einverstanden ist, gewillt, während des Lesens das zwingende Programm des geschriebenen Worts zu befolgen. Lesen heißt somit, sich dem geschriebenen Wort zu unterwerfen, was letztlich das gleiche ist wie die Unterwerfung unter den Schreibenden. Es gilt, von der eigenen Stimme Abstand zu nehmen, so lange das Vorlesen dauert: das geschriebene Wort macht sich die Stimme des Lesers zu eigen.

Das geschriebene Wort nimmt auf diese Weise die Stimme des Lesers in Besitz. Die Stimme des Lesers gehört während des Vorlesens dem geschriebenen Wort, sie wird während eines längeren oder kürzeren Zeitraums zum Besitz des geschriebenen Worts. Gelesen werden heißt unter diesen Bedingungen, Macht über die Zunge des Lesers auszuüben, über seinen Sprechapparat, seinen Körper, auch über zeitlich und räumlich große Distanz. Und dies bis ins kleinste phonetische Detail. Der Schreibende, dem es gelingt gelesen zu werden, benützt und steuert eines anderen Menschen Sprechapparat, er bedient sich dessen, auch nach seinem eigenen Tod, so wie man einen hörigen Sklaven benützt und sich seiner bedient.

Von den griechischen Verben für »lesen« ausgehend und gestützt auf Platons Dialog Phaidros, zeigt Jesper Svenbro die Entwicklung vom sklavischen Leser zum kritischen lesenden Subjekt auf. Dabei erfahren wir auch, wie Sokrates das Kunststück gelang, trotz Schreibverweigerung seine Gedanken in Platons Schriften der (akademischen) Nachwelt zu hinterlassen.

Woher kommt das griechische – und damit letztlich auch unser – Alphabet? Wer immer phoinikéïa grammata (= die Phönizischen, d. h. Buchstaben) sagt oder sich ihrer beim Schreiben bedient, erinnert sich im mythischen Denken der Griechen an die athenische Königstochter Phoiníke, die »Palmenprinzessin«, zu deren Andenken das Alphabet erfunden worden sein soll. Jeder Schreib- und Leseakt also ein Trauerakt.

Auf »Ameisenwegen« führt uns eine neue Interpretation der Fabel Die Zikade und die Ameise – Embleme der menschlichen Stimme bzw. Schrift – ein weiteres Mal an die Akademie. Dort, in ihrem Innersten, liegt die Zikade aller Zikaden, Sokrates’ Stimme, begraben.

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