Buchcover
Bohumila Grögerová

Das windschiefe Tor

2003
engl. Broschur , 15 x 21 cm
152 Seiten
Aus dem Tschechischen von Christa Rothmeier.
ISBN: 9783854206200
€ 19,00

AUTOREN

Textauszug

Laut Augustinus war sein Lehrer Ambrosius der erste Mensch, der einen Text nicht laut, sondern nur mit den Augen las und damit die kindliche Methode des Buchstabierens mit Hilfe von Fingern und Lippen überwand. – Ich lese täglich und gerne, zeige dabei aber schon seit langem nicht mehr mit dem Finger. Das Vorlesen eines einzigen Wortes hatte damals lange gedauert, der Finger bewegte sich langsam von Buchstabe zu Buchstabe, ich runzelte vor Anstrengung die Stirn und stieß erleichtert die von mir entzifferten Laute und Silben heraus. Ich war mir nicht jedes Mal sicher und hob fragend die Augen, um mich zu vergewissern, keinen Fehler gemacht zu haben. Erst dann begann der Moment des Nachdenkens, was dieses Wort bedeutete, weil es vorläufig nur die Lösung einer Scharade, nur eine Ansammlung von Buchstaben und Geräuschen gewesen war. – Als meine Enkelin Kristina schreiben und lesen lernte, beschrieb sie alles, was ihr unter die Hände kam, mit Druckbuchstaben. Sie schrieb etwas auf jeden Zettel und klatschte ihn dann auf einen Teller, ans Fenster, mir auf die Stirn. Auf dem Tisch stand: TISCH, auf dem Sessel SESSEL. Damit jeder wüßte, was das war. Auch ihr kleiner Bruder bekam einen Zettel auf die Stirn und darauf stand: DAS IST VIKTOR. Das gefiel uns beiden und wir bekritzelten alles Mögliche, damit es nicht verloren ginge, damit es nicht vergessen würde, damit es nicht wieder zurück ins Nichts verschwand, damit es einfach ETWAS und nicht ein bloßes NICHTS wäre! Um kein Unglück und Verderben darauf herabzubeschwören, gaben wir allem einen Namen. Und so spielten wir und es war ein Spiel auf Leben und Tod. DAS IST MAMA – DAS IST PAPA – DAS IST TANTE – DAS IST ONKEL – DAS IST GROSSMUTTER. Muß er dann sterben, wenn wir jemanden vergessen, Omi? Zuletzt schrieben wir mit gemeinsamer Hand auf einen Zettel: DAS IST DIE GANZE WELT. Damit hatten wir gewonnen. Jetzt konnte nichts Böses mehr geschehen, alles war benannt, erschaffen, das Nichtsein abgewendet.

In einer alten Kiste entdeckt die Erzählerin Briefe und Tagebuchaufzeichnungen: die Notizen ihres Vaters, der 1918 als Soldat in Sibirien das Ende des Ersten Weltkriegs erlebt und erst 1920, über Wladiwostok, Singapur, Suez und Triest wieder nach Prag heimkehrt – 1921 kommt Bohumila auf die Welt. Und gegenläufig zur Bewegung dieses väterlichen Tagebuches nähert sich die Erzählerin selber ihren Ursprüngen, mit Erinnerungen, Impressionen, Bildern aus fast einem ganzen Jahrhundert.
Grögerovás Prosa bewährt sich in der Organisation der zahllosen kleinen Erzählsplitter, in der völlig unsentimentalen Sinnlichkeit der ›kleinen Dinge‹ des privaten Lebens: die vielen Wohnungen im Lauf eines Lebens, die nachbarschaftlichen Verhältnisse und Schicksale, die Wochenenden und Besuche. Leitmotivisch wird der Eintritt in das Reich der Erinnerungen und des Schreibens durch ein schief in den Angeln hängendes Gartentor beschworen.
Die große experimentelle Autorin hat nicht nur ein kluges Buch über Biografie und die Herstellung von Identität geschrieben, sondern auch eines der seltenen Werke, in denen mutig dem Wesen des Alters nachgespürt wird.

Presse

»Ein melancholisches Buch, voll Weisheit und Poesie, ein Buch der Einkehr und Einsamkeit.« (Uwe Stolzmann, NZZ)

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