Buchcover
Gerhard Melzer

Es liegt was in der Luft

Die Himmel Europas
2003
gebunden , 13 x 21 cm
160 Seiten
ISBN: 9783854206248
€ 14,00

BEITRÄGER

  • Alfred Kolleritsch
  • Ilma Rakusa
  • Yoko Tawada
  • Urs Widmer
  • Joseph Zoderer
  • John Wray
  • Eric-Emmanuel Schmitt
  • Maria Rybakova
  • Ismail Kadare
  • Emine Sevgi Özdamar
  • Herta Müller
  • Claudio Magris
  • Belen Gopegui

HERAUSGEBER

  • Gerhard Melzer

Textauszug

Als ich Kind in Istanbul war, war das erste europäische Wort, das ich hörte: Deux-Pièces. Meine Eltern gingen jeden Montag in ein Kino, das Teyyare Sinemasi hieß. Das bedeutet auf deutsch: Flugzeugkino. Dieses Kino zeigte nur europäische Filme. Meine Mutter erzählte mir von dem Besitzer des Flugzeugkinos, der sich selbst wie ein Filmstar anzog und die Besucher am Eingang seines Kinos empfing. Er wusste, dass die Zuschauer in manchen europäischen Filmen, die er zeigte, weinen würden. Für solche traurigen Filme ließ er aus feinen Stoffen Taschentücher herstellen, die er persönlich vor dem Kino an die Besucher verteilte. Meine Mutter gab mir eines dieser Tücher, mit dem sie im Kino ihre Tränen getrocknet hatte. Ich legte dieses Taschentuch mit den Tränen meiner Mutter in meinen Schulatlas, genau zwischen die Seiten, auf denen Europa dargestellt war.
Meine Mutter und mein Vater zogen sich jeden Montag sehr schick an, um ins Flugzeugkino zu gehen. »Was wirst du anziehen?«, fragten sie jedesmal. Einmal sagte meine Mutter: »Ich werde mein Deux-Pièces anziehen.« Ich fragte: »Mutter, was heißt Deux-Pièces?« »Deux-Pièces ist Deux-Pièces«, antwortete meine Mutter.
Meine Großmutter war eine abergläubische Frau. Sie hatte Angst, dass die Schatten auf der Leinwand die Gesichter meiner Eltern wegnehmen würden. Am nächsten Morgen fragte ich meine Eltern, was sie im Kino gesehen hatten und wie der Film hieß. Mein Vater antwortete, »ich habe vergessen, wie der Film heißt, aber schau, der Schauspieler Jean Gabin raucht so«, und er machte Jean Gabin nach, wie er rauchte. Die Zigarette steckte in seinem Mundwinkel, bis die Asche herunterfiel. So rauchte mein Vater ein paar Wochen lang wie Jean Gabin, bis er an einem anderen Montag im Flugzeugkino einen Film mit Rossano Brazzi sah und dienstags zu Brazzi überwechselte. So waren die ersten europäischen Gäste in unserem Istanbuler Holzhaus Jean Gabin und Rossano Brazzi.

(aus: »Gastgesichter« von Emine Sevgi Özdamar)

Es sind die Luft, das Licht, der Wind, die gleichsam die Elementarstoffe bilden, aus denen die subjektive Erfahrung gemacht ist. Der Himmel über Europa scheint überall der gleiche zu sein und ist doch überall ein anderer, besonderer Himmel.

Es darf unterstellt werden, dass Europa als politisches und wirtschaftliches Gebilde, wie es die EU-Rhetorik definiert, nicht unbedingt ein Wunsch­thema der Literatur ist. Literatur sagt mehr als Geografen, Politiker oder Betriebs­wirte über diesen Kontinent zu sagen wissen, sie sucht die Ver­ankerung in der subjektiven Erfahrung, in konkreten Räumen und Lebens­zusammenhängen. Die Herausforderung lautet also, Europa als besonderen Erfahrungs­raum zu vergegenwärtigen, oder besser: als Raum besonderer Er­fahrungen.

Was ist Europa, wenn es nicht als Abstraktum erlebt wird, sondern als ein besonderes Stück Welt? Diese Frage zu beantworten, haben sich Autorinnen und Autoren aus allen Regionen Europas zusammengefunden, auch solche, die Europa zu ihrer Wahlheimat gemacht haben oder über eine Außenperspektive auf diesen Kontinent verfügen. Sie verfassten Texte, die die Erfahrung einer selbstgewählten Stadt oder Landschaft Europas thematisieren und über das radikal Subjektive dieser Evidenz so etwas wie die Einheit in der Vielfalt europäischer Himmel andeuten.

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