Buchcover
Ronald Pohl

Die algerische Verblendung

Roman
2007
gebunden , 13 x 21 cm
240 Seiten
ISBN: 9783854207153
€ 21,00

AUTOREN

Textauszug

So forderte er mich eines Tages auf, die Kamine auf den Hausdächern von Bonville für ihn nachzuzählen, deren quadratische Schlote wie Rippen aus den Blech- und Schindeldächern hervorsprangen, als bestünde der ganze Distrikt aus den Skeletten gestrandeter Wale. Ich betrachtete das schmiedeeiserne Rankenwerk, das unterhalb der schmalen Fensterbrüstungen mit den Gerinnseln von Blutergüssen für den französischen Schönheitssinn warb. Die Häuser traten mit den ernsten Mienen rechtschaffener Teilnahmslosigkeit ein für die Bevorrechtung der französischen Minderheit, sofern diese nur den kakaobraunen Abschaum drangsalieren konnte: die Ureinwohner wie Bürger zweiter Klasse behandeln; ihre Tagelöhner mit Bettelgroschen abspeisen; die Geistlichen an den Flauschbärten zupfen; die Maultiere schinden; die Kupplungen der im Staub gebackenen Rostlauben zuschanden fahren; die Kipplaster gegen die Pforten aus Quarzstein rammen – ihn hatte ein Sufi-Gott mit meergrünen Augen so lange eifersüchtig angestarrt, bis er zu gekanteten Stelen zusammentrat –, bis sie auseinander krachten, der unglückliche Fahrer aber zu Kerker verdonnert wurde – in dem man die Tage in der Währung der Sandkörner handverliest; die Wanderarbeiter auf Brachen schicken, wo sie mit sisalumwickelten Spaten die algerische Kopfhaut kratzten; die Maden aus den Stangenbroten kletzen; den Anisschnaps für Fußwaschungen missbrauchen; sumpfgelben Auswurf auf die Panele spucken, bis die Korkeiche in der Mitte brach; Harkis verspotten, deren Unterwürfigkeit auf Beinen daherkam, deren Knochenschwund die ovale Durchlässigkeit der Schenkel erzwang, sodass Scheißkerle wie ich Hündchen mit getrimmten Bommelschwänzen dazu verlockten, durch diese Einfallstore der Würdelosigkeit hindurchzutrippeln – wonach die Köter zufrieden ein Hosenbein des Gedemütigten bepissten, Schoßlecker mit feuchten Schnauzen, die sich den Bauch kraulen ließen, ehe sie geschäftig an die Eisenpoller kackten, mit denen die Trottoirs gespickt waren, um das Knattern der Fuhrwerke vom schwarzen Fluss der Burka-Trägerinnen abzutrennen, deren Mütter noch bloßfüßig über Weißdorn getrampelt waren, bis ihnen die Fersen aufplatzten, zur Stummheit verurteilte Weiber, die sich nunmehr vor pneumatischen Schiebetüren aufreihten, als stünden sie am Ziehbrunnen um Wasser an, und ihre gedunsenen Leiber über den schmalen Abgrund hievten, der die Schwelle der Metro vom Bord des Bahnsteigs trennt –

Der Algerienfranzose Meursault aus Camus’ Roman Der Fremde ist in Ronald Pohls Roman ein Handlungsreisender mitten im algerischen Unabhängigkeitskrieg der frühen 60er Jahre. Seine Wege durch Algier und in die Berge der Kabylei sind ein wahrer Alptraum: Die Kolonialgesellschaft zeigt sich von ihrer schlimmsten Seite, die Lächerlichkeit und Verkommenheit der Szenerie ist kaum noch zu überbieten. Mitten in Dreck und Getümmel kommt Meursault hinter das Geheimnis seiner Herkunft.

Wie eine Schmutzflut ergießt sich die Prosa Ronald Pohls kaskadenartig über die Seiten. Eine entfesselte Metaphernmaschine scheint hier am Werk zu sein, die sich über jede politische Korrektheit hinwegsetzt und mit ihren immens gespannten Sätzen die Welt als Wucherung vorführt – oder auch als Verdauungsvorgang. Die Bilder treiben einander an, übertreffen einander, und wie in einem barocken Welttheater verweist diese Beschreibungsfülle auf eine im Kern leere, unmenschliche Welt. Der grimmige Humor der Szenen beschwört das Erbe von Heimito von Doderer herauf und hat wenig mit Albert Camus’ Existenzialismus gemein.

Was in diesem Roman mit einem der berühmtesten Helden der Literatur des 20. Jahrhunderts geschieht, ist buchstäblich atemberaubend: das Absurde, in das Meursault 1942 eintauchte, hat 2007 ein anderes, ein dezidiert politisches Gesicht bekommen!

Presse

»Pohls Roman (…) ist eine Momentaufnahme in den Jahren jener verblendeten Mörderei in Algerien, die sich Befreiungskrieg nannte.« (Jörg Drews, SZ)

»Ronald Pohl is to be congratulated for writing a work that is thought-provoking, powerful, and truly creative.« (John K. Cox, World Literature Today)

»Es steckt eine ungeheure schriftstellerische Energie und ein gewaltiger Formwille in allem, was er über die scheinbar so entrückten algerischen Zustände sagt: in den Übertreibungen, die hier bis in die aberwitzigsten Details gesteigert werden, und in der Disziplin, mit der der Autor dies alles in seine schönen Sätze packt. Nicht schlecht dieses Buch. Wirklich nicht schlecht!« (Klaus Kastberger)

Pohls »Text, den man als eine einzige Beschreibungsorgie bezeichnen könnte, (…) ist so grell überzeichnet, dass nie die reportagehafte Suggestion des Dabeiseins sich einstellen kann.« (Florian Neuner – literaturhaus.at)

»Ronald Pohls Roman ist ein Orgasmus. Punkt. So wild hat schon seit Jahren niemand mehr geschrieben, dabei klar und nie manieriert. (…) –Die algerische Verblendung ist ein erotisch abartig schöner Roman, er springt an die Gurgel, und je mehr er dem Leser die Luft abdrückt, umso klarer sieht dieser!« (Helmuth Schönauer)

»Die Ausnahmeerscheinung eines Buches (…). Nichts als Druckerschwärze, und dennoch pralles Leben.« (Wolfgang Huber-Lang, APA)

»Ein rücksichtsloses Buch (…) ein sprachlich kodiertes Aufbäumen des europäischen Geistes vor orientalischer Körperlichkeit.« (Uwe Schütte, Wiener Zeitung)

»Voller Sprach-Bilder, voller Metaphern. Sagenhaft und erstaunlich.« (Caro Wiesauer, Kurier)

Den stärksten Eindruck hat dieser Roman wohl auf Michael Scharang gemacht:»Man ist fasslungslos, wie jemand es schafft, jeden seiner Sätze so lange mit Eigenschaftswörtern zu traktieren und mit Vergleichen zu quälen, bis er tot zurückbleibt.« (Die Presse, Spectrum)

Franz Josef Czernin antwortet Michael Scharang ein paar Tage später in einem offenen Brief in der Presse: »Wie äußern sich das gesunde Volksempfinden und sein Sprachrohr, der Boulevard, wenn sie ein literarisches Werk nicht verstehen (…)? Sie versichern, der Autor sei ein Scharlatan«.

»Scharang auf Pohl loszulassen ist in etwa so verantwortungsvoll, wie einen Fuchs in den Gänsestall zu setzen: man weiß, was passiert; im amerikanischen Gerichtssystem zieht ein Mord dieser Art dann auch First-Degree-Anklagen für die Auftraggeber nach sich.« (Blumenau, FM4)

»Warum nur ein Buch totschlagen, wenn man den dahinter steckenden Kerl, vulgo Autor, gleich miterledigen kann?« schreibt Ewald Schreiber im Wiener city-Magazin zu Scharangs Rezension.

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