Buchcover
Peter Weibel Franz Josef Czernin Franz Kaltenbeck Ferdinand Schmatz Walter Grond Max Gad

»30×2 Sessel/Stühle«

2008
gebunden , 30x21,7 cm
64 Seiten
62 farbige Abbildungen
Mit einem Vorwort von Peter Weibel und Ralph Schilcher. Zweisprachig deutsch/englisch.
ISBN: 9783854207566
€ 25,00

BEITRÄGER

Textauszug

Vorwort des Kurators

In Evolutionsstufen gesprochen kam das Sitzen nach dem Liegen und vor dem Laufen. Glücklicherweise kann man stehend nicht sitzen. Sitzen unterstützt aber das Standvermögen. Denn Stehvermögen beweist, der nicht umfällt, am allerwenigsten beim Sitzen. Sitzenbleiben hingegen macht nicht gerade glücklich, denn es bedeutet Versagen bei schulischen Leistungen und ist gewissermaßen die Vorstufe zum Überbleiben, das, was man sich am allerwenigsten wünscht. „Bleib sitzen“, sagt man zu Menschen, wenn man sie behandelt wie Hunde, denen man einfach einen Ort zuweist. „Platz“ ist die Kurzfassung von „Bleib sitzen“. Sitzen bedeutet also Raum einnehmen und Stehen bedeutet Raum verteidigen. Sitzen ist daher eine friedliche Tätigkeit und ein Beitrag zur Kultur. Sitzen bedeutet, gegen den Krieg zu sein, denn der Krieg ist eine Sache des Marschierens. Deswegen gibt es Sit Ins und Sitzstreiks als Formen des Pazifismus und des Widerstands gegen Autoritäten. Sitzen, da es weder Stehen noch Marschieren ist, ist der Eckpfeiler einer Zivilgesellschaft, so wie das Militär das Reich des Marschierens und Stehens ist. Wer sitzt, ist genauso wenig faul wie derjenige, der liegt, sondern wer sitzt, der denkt. Sitzen gehört also zur Geschichte der Kultur und nicht nur zur Geschichte der Psychologie, des Designs oder der Evolution. Die Aufgabe des Designs ist es, das Sitzen deutlich vom Stehen und Stellen zu unterscheiden, denn das Wort Stuhl gehört bedauerlicherweise zu den Nominalbildungen des Verbs „stehen“ und bedeutet eigentlich „Gestell“. Stuhl kommt also von „Gestell“, „gestanden“, „Ständer“. Deswegen muss der Stuhl ein Gestell sein, das sich scharf abgrenzt vom Stehen. Auf Schwedisch bedeutet „stol“ das Gleiche wie das englische „stool“, aber das russische „stol“ bedeutet „Tisch“ oder „Thron“, den Hochsitz des Fürsten oder des Richters, von dem sich auch der „Lehrstuhl“ ableitet. Die Sitzhaltung ist also von feudaler Herkunft und verrät weltliche und geistliche Macht. Ab dem 16. Jahrhundert wurde das Sitzen eine bürgerliche Einrichtung der Zivilisation. In der Demokratie ist der Stuhl gewissermaßen „zu Stuhle“ gekommen, das heißt „mit etwas fertig geworden“, nämlich mit dem Statussymbol der Herrschaft, wie es auch in dem Wort „gesetzt“ zum Ausdruck kommt, oder in dem noch schöneren Ausdruck: „zur Ruhe setzen“. Wer sitzt, ruht in sich selbst, ist zu sich gekommen, ist zur Ruhe gekommen. Der Stuhl ist also der Tempel der Meditation, des Denkens, des Friedens und der Zivilgesellschaft. Die zahlreichen Variationen von Stuhltypen, die KünstlerInnen zum 60. Geburtstag von Ralph Schilcher gemacht haben, sind also nicht nur eine Hommage an den mutigen Sammler und effizienten Produzenten, innovativen Galeristen und begnadeten Drucker, sondern auch eine Hommage an den Stuhl und dessen Zukunft als Kulturgerät und moralische Anstalt. Es gibt keinen Kinofilm und kein Theaterstück ohne einen Stuhl, nicht einmal Konzerte kommen ohne einen Stuhl aus. Die bedeutendste aller Kulturrequisiten ist der Stuhl. Schilcher hat daher Stühle gesammelt, als Beitrag zur Kultur und gegen den Krieg, und eine Ausstellung von Stühlen angeregt, um dem Stuhl seinen gebührenden Platz als zentrale Requisite in der Geschichte der Kultur zu sichern. Nachdem er sich sein Leben lang zwischen Stühle gesetzt hat, wird er sich sicherlich auch in Zukunft nicht zur Ruhe setzen, wie dieses Projekt beweist.

Peter Weibel

Mit einem Essay von Bazon Brock und 30 Seiten mit Beiträgen von Peter Noever, Friedrich Achleitner, Volker Albus, Ernst M. Binder, Franz Josef Czernin, Hermann Eisenköck, Max Gad, Hermann Glettler, Walter Grond, Franz Kaltenbeck, Wolfgang Lorenz, Markus Mittringer, Peter Pakesch, Rolf Sachsse, Ferdinand Schmatz, Heimo Steps, Rudolf Taschner und Manfred Wolff-Plottegg und 30 Fotos sowie 2 Ausstellungsfotos von Michael Schuster mit Sesseln/Stühlen von Heiner Blum, Herbert Brandl, EVA & ADELE, Peter Friedl, Jakob Gasteiger, Franz Graf, G.R.A.M., Markus Huemer, IRWIN, Michael Kienzer, Peter Kogler, Zenita Komad, Brigitte Kowanz, Hans Kupelwieser, Thomas Locher, Rudi Molacek, Christian Philipp Müller, Flora Neuwirth, Tobias Rehberger, Werner Reiterer, Gerwald Rockenschaub, Eva Schlegel, Michael Schuster, Hartmut Skerbisch, Gustav Troger, Peter Weibel, Hans Weigand, Markus Wilfling, Erwin Wurm, Heimo Zobernig und einer Covergestaltung von Manfred Erjautz.

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