Buchcover
Ilma Rakusa

Aufgerissene Blicke

Berlin-Journal
2013
gebunden , 13 x 21 cm
120 Seiten
ISBN: 9783854208365
€ 16,00
als ebook erhältlich

AUTOREN

Textauszug

Es gibt Orte, die einen ansprechen, und andere. Berlin hat mich immer angesprochen. Es sprach zu mir, als es geteilt war, es hat nicht aufgehört, zu mir zu sprechen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich nach einem einjährigen Studienaufenthalt in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, auf der Rückreise kurz Station in Berlin machte. Meinen Koffer gab ich in die Gepäckaufbewahrung am Bahnhof Zoo und fuhr dann mit der S-Bahn nach Ostberlin, weil mir der Westen zu grell erschien. Abends setzte ich mich in ein Kino in der Nähe des Zoos und sah mir Chaplins Modern Times an.
Berlin ist für mich ein Scharnier zwischen Ost und West geblieben, eine Stadt, die mir meine Herkunft aus dem Osten bewusst macht und gleichzeitig Zukunft bereithält, ist sie doch ständig im Umbruch, unterwegs zu sich selbst. Ich sehe ihre Wunden, rieche in manchen ihrer Straßen den Braunkohle-geruch meiner Ljubljaner Kindheit, falle in Zeitlöcher und wundere mich über ihre Vitalität. Mit Phantasie werden triste Höfe umgenutzt, Brachen bebaut, marode Räume in quirlige Galerien verwandelt. Ich lese die Stadt wie ein Palimpsest, mit all ihren Leer- und Bruchstellen. Denn Geschichte wird in Berlin nicht wegretuschiert, sie ist da, unübersehbar präsent, Hinter- oder Untergrund jeder Erneuerung. Schon wieder boomt das russische Berlin wie in den berühmten 1920er Jahren, Traditionen leben – anders – wieder auf, während Gedenkstätten und Mahnmale die Erinnerung an das wach halten, was sich nie mehr wiederholen darf.
Ich bin von Berlin berührt, gerade weil die Stadt weh tut. Weil sie an ihren Widersprüchen laboriert und dabei auch manch kleines Wunder vollbringt. Die vielen Berliner Kinderspielplätze! Die Salsatänzer an der Spree! Das Festival der Kulturen der Welt! Berlin ist unfertig und immer in Bewegung. Mein Nomadentum erwidert es mit den Worten: Lass dich auf mich ein. Das tue ich, schon seiner Großzügigkeit wegen. Und werde damit so schnell nicht an ein Ende kommen.

Schon auf der ersten Seite dieses Berlin-Journals ist die Stadt gesättigt von Geschichte und ihren Schrecken – und von Gegenwart, der Gegenwart der ganzen Welt. Ilma Rakusa bewegt sich hellwach und offen durch die unterschiedlichen Quartiere und »Zeiten« Berlins, zwischen den Erinnerungsstätten nationalsozialistischen Terrors und den Galerien, Kinos, Theatern und Cafés der Gegenwart, zwischen Schriftstellern aus Japan, dem Libanon und der Türkei und Bibliotheken, Hinterhöfen und Parks. Als Fellow des Wissenschaftskollegs weilt sie von Oktober 2010 bis Juli 2011 vor Ort und lernt, selber eine Autorin mit vielfältigsten Wurzeln und Sprachen, Künstler und Intellektuelle unterschiedlicher Herkunft kennen.

Ein unvergleichliches Jahr in einer unvergleichlichen Stadt. Mit ihrer nervösen Prosa hält Ilma Rakusa die Wahrnehmungen dieser Tage fest: die Katastrophen, die die Nachrichten ihr zutragen (vom Giftschlammdesaster in Kolontár bis Fukushima), die sozialen Verwerfungen, mit denen sie auf Schritt und Tritt konfrontiert ist, die Kulturereignisse, die Lektüren, vor allem die zahllosen Begegnungen mit Kollegen und Kolleginnen wie Yoko Tawada, Elias Khoury, Carlo Ginzburg oder Liao Yiwu. Ein ebenso sensibles wie dichtes Porträt Berlins, dieser Metropole der Unruhe und einer der phantasievollsten Weltstädte unserer Zeit.

Presse

»Leichtfüssig und neugierig bewegt Rakusa sich durch die Stadt auf eine offene und zugleich intime Weise und berichtet von ihrem nosing-around in Skizzen, die ein heiter-melancholischer Tonfall trägt. Ein schönes Buch.« (Barbara Eisenmann, SWR2)

»Mit funkelnder Ingeniosität poetisiert Ilma Rakusa Berlin, bis daraus ein facettenreiches Kunstwerk hervorgeht, das gerade im Bewusstsein seiner inneren Widersprüchlichkeit eine stilvolle Aura entfaltet.« (Björn Hayer, FAZ)

»In wenigen Sätzen bringt Ilma Rakusa zusammen, was in der Stadt ebenfalls auf knappem Raum zu erfahren ist: der Schrecken des Nationalsozialismus, der Reichtum Weniger, die Begegnung mit einem Original, das intellektuelle Leben.« (Ina Boesch, NZZ am Sonntag)

»Rakusas Blick ist analytisch, dringt in die Schichten, Themen, Bereiche der Stadt, spürt unter ihrer Oberfläche Gegenwart, Unerwartetes auf. Die Art der Beschreibung, der ruhige Fluss ist typisch für Ilma Rakusa, wie die Genauigkeit ihrer Wahrnehmung.« (Barbara Bongartz, Die Presse)

»Die Lektüre verschafft einem das Gefühl, zum Gesprächspartner der Autorin zu werden – und es ermuntert dazu, selbst aufmerksamer und gelassener zu flanieren. Nicht nur in Berlin.« (Stephan Lohr, NDR)

»Da ist vor allem der Scharniercharakter zwischen Ost und West, der Ilma Rakusa die Stadt lieben lässt. Da ist aber auch die stete Provokation des Orts, seine nervöse Vitalität und Aggressivität – Glanz und Elend in einem.« (Silvia Hess, Buchkultur)

»Bereicherung ist die Lektüre, ja, man möchte die Autorin am liebsten gleich persönlich kennenlernen – man möchte nicht aufhören zu lesen und wünscht sich mehr solch feiner, poetischer Rakusa’scher Momentaufnahmen.« (Friederike Gößweiner, literaturkritik.de)

»Sehr empathisch, poetisch und prägnant« (Alexandra Stäheli, NZZ)

»Das Buch von Ilma Rakusa mit ihrem literarischen Blick auf Berlin ist ein Lesegenuss und bestätigt einmal mehr, wie nur Literatur eine tiefe, differenzierte Anschauung zulässt und die vermeintliche Realität völlig neu aufrollt.« (Urs Heinz Aerni, Berglink Berlin)

»Besonders die Spontaneindrücke der Flaneurin bieten das dichte Stimmungsbild einer Stadt, die ständig in der Schwebe zu sein scheint (…) ein wahres Kunstwerk, das sich auf erfreuliche Weise weitestgehend den Klischeebildungen anderer Berlin-Bücher entzieht.« (Björn Hayer, allmende)

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