Buchcover
Julien Gracq

Aufzeichnungen aus dem Krieg

2013
gebunden mit Lesebändchen , 13 x 21 cm
192 Seiten
Aus dem Französischen von Dieter Hornig
ISBN: 9783854208389
€ 22,00

AUTOREN

Textauszug

Auf der Straße nach Téteghem. Oh was für eine trostlose Landschaft, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde können. Hinter uns bedecken die Rauchschwaden von Dünkirchen, wo drei riesige Feuer brennen, ein Drittel des Himmels. Vor uns steigt aus dem Osten beinahe symbolisch ein apokalyptisches, tintenschwarzes Gewitter auf. Die kahle Ebene, die harte und traurige, vom Regen triefende Straße. Und auf jeder Seite, regelmäßig wie die Pylonen Ägyptens oder wie Graballeen in China, alle zwanzig Meter in den Graben gekippt, so weit das Auge reicht, die englischen Lastwägen wie eine Art immenser Portikus für die wilde Flucht. Das aufsteigende Gewitter und der leere Magen schärfen die Sinne bis hin zum vagen Eindruck des Weltuntergangs. Der Regenschauer peitscht die Herde hart und panzert die Mäntel. Wir sind verstört, seelisch angeschlagen.
Zum Glück beschenkt mich die vorbeifahrende Feldküche mit einem kräftigen Stück Speck, das ich hinunterschlinge wie Manna. Der Kanonendonner scheint spürbar näherzurücken.
Wir treffen bei strömendem Regen und von Kopf bis Fuß durchnässt in Téteghem ein, und die ganze Kompanie drängt sich in einen nur dürftig mit Stroh versehenen Bretterschuppen, in dem der Gewitterhimmel eine Art Nacht erzeugt. Soldaten und Offiziere werfen sich bunt durcheinander direkt auf das Stroh und rangeln mit Ellbogen und Füßen. In fünf Minuten schnarchen alle, während einige Nachzügler versuchen, sich einen Platz zu sichern. Es muss vier Uhr am Nachmittag sein. Ich schlafe nicht oder kaum. Unter der Sintflut, die überall einsickert, und der schwefeligen Dunkelheit gemahnen die hingestreckten Körper an ein Floß der Medusa – ein Wrack jedenfalls, darüber besteht kein Zweifel. Eine Granate oder ein Brand in der Scheune würden diese Leiber, in denen jedes Atom ganz und gar eine Beute der Schwerkraft ist, nicht hochbringen.

Als 2011 die Manuscrits de Guerre aus Julien Gracqs Nachlass erschienen, wurden sie in Frankreich sofort zu einem literarischen Ereignis – die Neugier, von diesem eigensinnigen und unbeirrbaren Meisterstilistiker endlich auch ein authentisches »privates« Zeugnis lesen zu können, machte diese Aufzeichnungen zu einem der meistgelesenen Bücher des Jahres.

Julien Gracq beschreibt in diesem Journal seine Zeit als Leutnant vom 10. Mai bis zum 2. Juni 1940 in Flandern, wenige Kilometer entfernt von Dünkirchen. Und er beschreibt sie gewissermaßen in zwei Genres, einmal als unmittelbare Tagebuch-Aufzeichnungen – und, in einem zweiten Heft, verwandelt in eine klassische Erzählung. Seine Sätze sind, schon am Beginn seiner literarischen Laufbahn (erschienen war bis dahin erst der kleine Roman Auf Schloß Argol, 1938), von bemerkenswerter Präzision und einer sinnlichen Schärfe, die sogar die tristen Ereignisse des Soldatenalltags magisch zu verwandeln imstande ist. Gracqs Schilderung vermittelt sowohl die ungeheuer spannende Situation vor Ort, als auch das lächerliche und nervenbelastende Warten in diesem »Kriegsspiel«, das ja die zentrale Erfahrung in den großen Romanen Gracqs (Das Ufer der Syrten, Der Balkon im Walde) darstellt.

Presse

»Die eindringliche Sprache, die dichte Atmosphäre, die sie knüpft, seine Liebe zum Detail und der Topographie der Handlungsorte, erschaffen eine an Empfindungen außerordentliche reiche Welt.« (Thomas Palzer, Deutschlandfunk Büchermarkt)

»Sowohl die literarisch als auch die historisch interessierte Leserschaft wird bei der Lektüre auf ihre Kosten kommen.« (Franziska Meier, NZZ)

»Der Blick, der Stil, die Sprache: Bei Julien Gracq war alles von Anfang an da, wie seine posthum veröffentlichten Aufzeichnungen aus dem Krieg belegen.« (Jochen Schimmang, FAZ)

»Die Erinnerungen an die Westfront 1940 bieten ein einzigartiges Leseerlebnis. Brillant und magisch erzählt. Absolut empfehlenswert.« (Stanislav Struhar, Thalia Buchhandlung)

»Gerade weil Gracq alle historischen oder politischen Deutungen radikal heraushält aus seiner Prosa, gewinnt der Krieg bei ihm eine Präsenz, die fast einzigartig ist in der Literatur des 20. Jahrhunderts.« (Wolfgang Matz, Merkur)

»Die Kollision von Schrecken und Naturidyll, von Instinkt und Gehorsam akzentuiert die Absurdität des Kriegs. Frühe, große Gracq-Prosa: schaurigschön, magisch.« (Ingeborg Waldinger, Wiener Zeitung)

»Ich kenne in der Literatur, die den Krieg als Gegenstand hat, kein Werk, das wie dieses so unideologisch, weder pazifistisch noch heroisch, daherkommt.« (Jörg Aufenanger, Berliner Zeitung)

»Julien Gracqs Aufzeichnungen aus dem Krieg bestechen mit ihren ›sorgfältigen Momentaufnahmen‹ aus einem Krieg, über dessen Ausgang wie ›moralische Qualität‹ keinerlei Zweifel bestehen.« (Erich Klein, ORF ex libris)

Top