Buchcover
László Garaczi

Bekenntnisse eines Lemuren

Roman
2011
gebunden , 13 x 21 cm
192 Seiten
Aus dem Ungarischen von György Buda
ISBN: 9783854207856
€ 19,00

AUTOREN

Textauszug

Ich weiß nicht, woher diese Besessenheit stammt, das Wörtersammeln. Bis zu meinem dritten Lebensjahr habe ich nicht gesprochen, vergeblich hat man mit mir geredet, gesungen, vergeblich alles Erzählen und Fragen, ich habe nicht geantwortet. Ich nickte, brummelte, schnitt Grimassen, Körpersprache, der Arzt sagte, nur Geduld, das gibt sich schon. Ich spielte im Zimmer mit einem Kasperl und einem Plastiksoldaten, ließ sie aufeinander losgehen, tusch, tusch, Mutter kam herein, ob ich ein Butterbrot haben möchte, ich antwortete nicht. Sie ging hinaus. Ich sah mich um, da war niemand, und ich hatte zwei Figuren in der Hand. Wenn man mich später fragte, was ich werden wolle, antwortete ich: ein Kasperl oder ein Soldat.
Ich lernte, dass ich in Wörtern spreche und dass man die Wörter mit dem Zimmermannsbleistift auf Zeitungspapier schreiben kann. Ich merke mir die Wörter so: Zu den alten kommt ein neues hinzu, ich weiß noch nicht, was es bedeutet, aber ich spüre aus dem Tonfall und aus seiner Nachbarschaft, aus den Wörtern daneben, was es heißen soll. Ich merke es mir, warte ab, ob es wiederkommt, damit ich sehe, was es will. Ich schmecke die Wörter. Schreiben klingt so wie das Anzünden eines Zündholzes, Feder klingt wie Schweben. Die Wörter haben vielerlei Bedeutungen. Was wuselst du wieder herum, du Zappelphilipp, ich werde dir deinen Zappel schon zurechtstutzen!, zischt der Turnlehrer. Die Wörter sind genau und ordentlich, oder zweideutig, unordentlich, schmutzig und vergänglich. Karzer, Friedensanleihe, die gibt es heute nicht mehr.
Ich las Bücher, und das war so, als wäre ich bisher nie in Sicherheit gewesen, ich konnte nun endlich ruhig allein sein. Ich las immer im Voraus einen Satz aus der Mitte der Bücher, aufs Geratewohl, und wartete auf die Überraschung, wenn ich danach im Buch die Stelle erreichte. Der Satz bedeutete nun etwas anderes als beim ersten Mal, allein für sich. Dann fing ich an, die besonderen, die starken Wörter herauszuschreiben, die für sich einstanden: Eigenbrötler, vogelfrei, Heckenschütze, Speckstein, klammheimlich, Flugasche, die Fraisen. Das waren eigentümliche Wörter mit einer eigenen Aura, ich machte Jagd auf diese Einzelgänger, diese stolzen Exemplare. Ich fing sie ein, wie eine seltene Tierart, und sammelte sie in einer Flügelmappe, Ungarische Norm 5617.
Meine Eltern waren der Meinung, ich sei zu introvertiert geworden, sie kauften mir einen Papagei namens Robert.

László Garaczi führt seinen Erzähler, dem der Eintritt in ein befriedigendes Liebes- und Sexualleben nicht so recht gelingen will, mit der Aufnahme in den Militärdienst tiefer in die goldenen Jahre des ungarischen Sozialismus hinein. Aber dieses Buch ist keine Militärklamotte, es ist keine humoristische Erinnerung an Albernheiten eines ohnehin belachten Systems – und es ist auch keine Anklage gegen die Inhumanität dieses Systems! Unmenschlichkeit und Brutalität hat der Erzähler lange vor dem Militär kennengelernt, schon in der Schule, schon in der Familie (Territorien, die Garaczi schon in seinem zweiteiligen Roman Die wunderbare Busfahrt erkundet hat); Unmenschlichkeit steckt gewissermaßen im Herzen dieser Welt, Erniedrigung und Missbrauch gehören zum täglichen Geschäft der Menschen, das Militär ist nur ein weiterer Schauplatz, an dem diese Fähigkeiten brillant trainiert werden.

Der junge Mann mit dem Spitznamen ›Knochen‹ ist bereit, alles zu tun, um diesem Abrichtungssystem zu entgehen, bevor er gebrochen wird, bricht er sich lieber selbst den Arm. Unbestimmte, undeutliche Wünsche und Sehnsüchte treiben ihn an, die zu formulieren er nicht in der Lage ist; stattdessen sammelt er Wörter, seltsame, komische Ausdrücke, notiert sie in sein Heft und bleibt, vorerst, stumm – eine Ahnung vielleicht, dass nur das Wahrnehmen, das Benennen und am Ende das Aufschreiben aus der Lähmung und aus dem Grauen der Verhältnisse hinausführen können. Paradoxerweise schafft er am Ende, was ihm zu Anfang verwehrt blieb: nun, da er ein ›Mann‹ ist, erhört ihn Kamilla doch noch.

László Garaczi hat sich inzwischen als unbestechlicher Chronist der Erziehung und Anpassung an erniedrigende Bedingungen in die europäische Literaturgeschichte hineingeschrieben.

Presse

»Ein Männerbuch, durch und durch. László Garaczi, bekannt für schräge Romane und Erzählungen, legt einen Entwicklungsroman vor, der durch eine Höllenfahrt zu einem fast heiteren Finale gelangt.« (Ilma Rakusa, NZZ)

»Ein Roman, der wachrüttelt, sprachlich wie inhaltlich. Ein Männerbuch? Vielleicht. Aber ich als Frau habe bei der Lektüre einiges begriffen, das mir so noch keiner erzählt hat.« (Susanne Rikl, KommBuch.com)

»László Garaczi schickt einen introvertierten und erfolglosen Protagonisten zum Wehrdienst in Ungarns Militär. Dort herrscht der institutionalisierte Wahnsinn – für den Leser eine beeindruckende Zumutung.« (Jörg Plath, Deutschlandradio)

»So verstörend, grotesk und immer wieder auch poetisch gleichzeitig zu sein – das gelingt nur mit den Mitteln der Kunst.« (Cornelius Hell, ORF ex libris)

»Was Garaczis Buch über andere mit gleichem Thema hinaushebt, was Garaczis Bericht zu einem besonderen Kunstwerk macht, sind die Aufmerksamkeit für kleinste Details und, so seltsam es bei diesem Thema klingen mag, eine oft hinreißend schöne, lakonische Sprache.« (Uli Hufen, WDR 3)

»Schon mit dem Namen Lemur klingt die Selbstironie mit und eine Spur vom unverwechselbaren Garaczi-Jargon, der sich zwischen schlagfertigem Slang und einer geschliffenen Sprache bewegt und mit dem Garaczi ein Stück Zeitgeschichte spiegelt.« (Zsuzsanna Gahse, Stuttgarter Zeitung)

»Ein anrührendes Buch.« (Uwe Stolzmann, Neues Deutschland)

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