Buchcover
Eleonore Frey

Lipp geht

Erzählung
1998
gebunden , 13 x 21 cm
148 Seiten
ISBN: 9783854204961
€ 19,00

AUTOREN

Textauszug

Als Lipp zur Welt kam, fiel ein Ziegel vom Dach. Ging der Wind, gingen die Uhren schneller als sonst. Sprang auf der Flucht vor einer Antwort eine Frage ins Wasser und lernte schwimmen. Bellte ein Hund, schrie eine Frau, ging ein Platzregen nieder, fing einer, der aus dem Fenster schaute, an, auf die Pauke zu hauen und Alarm zu schlagen, worauf Sirenen heulend näher kamen, dem Radau zu Leibe rückten, den Lärm abschafften, indem sie ihn übertönten und in Luft auflösten: Blau blinkend trafen sie sich dort, wo er entsprang, während gleich um die Ecke Lipp zur Welt kam, nach Atem rang, sein Gesicht verzog und zu brüllen anfing. Lärm gegen Lärm – der Wasserhahn, den man eben noch tropfen, das Stöhnen, der Atem, den man gehen hörte, und die Ah, ein Knabe! und Wie blau er ist! Das alles war jetzt nichts. Nur er, Lipp. So groß wie sein Schrei, und draußen war das Gewitter vorbei, lag ein zerbrochener Ziegel auf der Straße, brach die Sonne durch die Wolken, warf ein Fahrrad seinen Schatten an die Wand und breitete sich eine Pfütze aus; dampfend, verdunstend: Noch war es Sommer, aber bereits versammelten sich die Schwalben, saßen auf den Telefondrähten und hoben sich schwarz ab vom Himmel – ein Notenblatt und drauf ein Lied zur Feier von allem, und wie es zerfiel, als nun die Schwalben lärmend auseinanderstoben, aufgeschreckt vom Wind, der die letzten Wolkenfetzen vom Himmel wegfegte. Blitzblank, während die Hebamme Lipp einen Klaps gab, ihn wusch, ihm die Nabelschnur durchschnitt und abband; tat, was sonst noch zu tun war – ein Armband anbringen zum Beispiel, auf dem stand Lipp Ickxs, damit man ihn nicht verwechsle, und ferner die genaue Zeit der Geburt zwecks allfälliger Befragung der Sterne. Was aber unterblieben war, oder es hatten die Sterne die Antwort verweigert. Damals als.

Schon in ihren früheren Erzählungen hat Eleonore Frey vorgeführt, wie Texte sich ihre Protagonisten erfinden, und wie diese Personen sich Biografien anprobieren – bis hin zur spielerischen Neuerschaffung der ganzen Welt im Siebentagebuch.

In Lipp geht sehen wir einer Frau in Paris zu (oder besser: hören wir ihr zu), wie sie einem Clochard, einem aus allen bürgerlichen Lebenszusammenhängen Herausgefallenen einen Lebenslauf erfindet, gewissermaßen den Roman eines Lebens. Wie immer in Eleonore Freys Geschichten gehen im Lauf der Erzählung alle Gewissheiten verloren, häufen sich unterm Strich mehr Verluste als Gewinne, wachsen die Unsicherheiten und die Fragen.
»Ich verstehe nicht, sagt Madame. Das ist bereits ein Fortschritt, sagt der Mann in Weiß.«

Unüberhörbar leise ist die Erzählstimme von Eleonore Frey, wie sie der Kontinuität, den jähen Unterbrechungen und Stillständen eines Lebens nachspürt. Mit äußerster Einfühlungskraft und gleichzeitig großer Distanz demonstriert sie immer wieder neu die Bodenlosigkeit jeder Literatur, ohne je darauf zu vergessen, dass dem Leser aber feste Gewissheiten in jedem Fall lieber sind …

Presse

»Von Erfindung einer Biographie handelt der Roman der Zürcher Autorin Eleonore Frey, der auf grandiose Weise alle vermeintlichen Gewissheiten untergräbt.« (Kölner Stadtillustrierte)

»Ein wundervolles Buch, im Wortsinn: ein Buch der Überraschungen, vor allem jener winzigen, die sich innerhalb eines Satzes ereignen, und also ein Buch voller Wunder.« (NZZ)

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