Buchcover
Markus R. Weber

Musen der Platzangst

Roger Corman verfilmt Stifters »Hochwald«
2002
gebunden , 13 x 21 cm
128 Seiten
ISBN: 9783854206163
€ 19,00

AUTOREN

  • Markus R. Weber

Textauszug

Herr Corman, ein Regisseur, der früher wenig Geld hatte, führt nach Jahren des Produzierens wieder Regie. Die Dreharbeiten finden in einem gemieteten Anwesen statt, das kurz vor dem Verkauf steht. Für die Dreharbeiten sind neun Tage festgesetzt. Die Arbeit begeistert den erfahrenen Filmemacher. Der Drehplan wird um zwei Tage unterschritten. Freudig überrascht, tätigt der Regisseur einige Anrufe. Die Besitzer des gemieteten Anwesens hängen auf einem Flughafen fest und werden erst einen Tag später eintreffen. Dies bedeutet einen dritten Tag Spielraum. Eine Schauspielerin steht noch zur Verfügung, eine andere kann innerhalb von Stunden eintreffen. In dieser Situation entsteht die Idee, in den verbleibenden Tagen eine literarische Vorlage für Film zu bearbeiten und am selben Ort zu drehen. Die Wahl fällt auf Adalbert Stifters Erzählung »Der Hochwald«. Die Idee wird sofort umgesetzt.

Außen. Tag.
Panoramaschwenk über eine Waldlandschaft, bewaldete Hügel und Berge. Es ist schwer vorstellbar, daß es außer diesem Wald jemals etwas anderes gegeben hat, geben könnte oder geben wird. Vielleicht eine Ruine (dafür ein Matte-Painting), ein kleiner Fluß muß vorkommen. Es bietet sich an, ein Dreieck zu zeigen, z. B.: zwei aufeinander zulaufende Bergrücken. Alles mit Wald. Wald, Wald. Sehr grün, verschiedene Töne. Fahl. Sonne, falls es sie gibt, ist hier nicht dieselbe wie man sie kennt. Leuchtet sie überhaupt, dann nur mit Grünstich. Matt. Erschöpft vom Wald, seinem erdrückenden Grün. Ein wenig schwenken. Im großen und ganzen ist diese Landschaft unbeweglich.
Ganz langsam schwenken. In diesem Wald möchte man nicht gehen. Es gibt keine Wege. Er hat keinen Anfang und kein Ende. Nur die Bäume wirken, als seien sie zuhause. Abweisend.
Mäßig gutgelaunte Musik ist zu hören mit irritierend düsteren Zwischentönen, sie lastet auf dem Wald.
Auch der Wind geht hier langsamer als anderswo.

Eine low budget-Produktion: In wenigen Tagen verwandelt der Drehbuchautor und gelegentliche Ich-Erzähler Stifters Erzählung Der Hochwald in ein Filmskript, und gleichzeitig verwandelt sich die Situation am Drehort langsam in das Geschehen eines Horrorfilms (The Haunting von Robert Wise, nach Shirley Jacksons Roman The Haunting of Hill House). Diese drei Ebenen – Der Hochwald, der Drehort, der Horrorfilm – reagieren aufeinander, und insbesondere der Text Adalbert Stifters, des Autors des stillen Gesetzes, erlebt eine ungeahnte Dynamisierung.

Verwandlung, Metamorphose, Überblendung: unter diesem Gesetz steht die Geschichte zweier Frauen, die in einem alten einsamen Anwesen Geistererscheinungen haben und von traumatischen Erinnerungen heimgesucht werden. Mit nahezu wissenschaftlicher Akribie und einer an den nouveau roman erinnernden Technik nähert sich Markus Weber dieser ausgesprochen spannenden Vorlage. Sein Crossover verfolgt nicht nur das Geschehen in dem alten Spukhaus, sondern unter der Oberfläche auch die Frage: Wie entstehen Texte und wodurch werden sie an welchen Stellen unserer Kultur situiert?

Reizvoll ist diese Erzählung nicht zuletzt auch deswegen, weil Weber genau dazu einen neuen Text erzeugt hat, dessen kultureller Ort weder in der Sphäre Stifters noch bei Roger Corman zu lokalisieren ist.

Eine faszinierende Analyse künstlerischer Verfahrensweisen und eine brillante Erzählung aus zwei heterogenen Kulturen.

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