Buchcover
Georgi Gospodinov

Natürlicher Roman

2007
gebunden , 13 x 21 cm
176 Seiten
Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann.
ISBN: 9783854207283
€ 19,00

AUTOREN

Textauszug

Niemandem ist es je gelungen, etwas aus seinem Traum mitzunehmen. Es gibt eine unsichtbare Zollkontrolle beim Verlassen des Traums, wo alles konfisziert wird. In meiner Kindheit hatte ich zum ersten Mal diese schmale Grenze bemerkt, wo Jenes Etwas stand. Ich nannte es so, weil ich keinen Namen dafür hatte. Jenes Etwas durchsuchte mich gründlich beim Verlassen des Traums und ließ mich erst aufwachen, nachdem es sich davon überzeugt hatte, dass ich nichts mitgenommen hatte. Es kam vor, dass ich mehrere Tage, eigentlich Nächte nacheinander von der Konditorei des Viertels träumte. Ich stellte mich in die Schlange, und wenn ich an die Reihe kam und vor der Konditorin stand, begann ich, nervös in meinen Taschen zu wühlen, und mit jeder durchwühlten Tasche wurde das Entsetzen immer größer. Ich hatte erneut mein Geld vergessen. Es war dort drüben, auf der Tagseite, in der Tasche der Hose, die ich ausgezogen hatte, bevor ich zu Bett gegangen war. So blieben vom ganzen Traum nur die Scham und das Entsetzen. Und der Geschmack der nicht gekosteten Torten. Eines Abends nahm ich meine ganzen damaligen Ersparnisse. Mit dem Geld aus der kleinen Sparkasse ergab sich die solide Summe von 2 Leva und 20, 30 Stotinki. Ich steckte sie in die Tasche meines Schlafanzugs und ging los. Ich schlief ein. Ich denke, dass mich Jenes Etwas beim Eintreten nicht durchsuchte. Ich stand vor der Konditorin und umklammerte das Geld in der Tasche. Ich wollte sie verblüffen, indem ich eine ganze Handvoll Stotinki in den kleinen Teller ausschüttete, und sie dabei »anschmachten«. Ich weiß nicht, woher ich dieses Wort hatte, aber ich benutzte es hartnäckig im Sinne von »den Hof machen«. Je kleinere Münzen ich der Konditorin gab, desto länger würde ich sie anschmachten können. Für dieses Geld kaufte ich mir einige Tortenstücke mit einer Butterrose darauf, Sirupkuchen, zwei Hirsebier und ein Dutzend Lakta-Bonbons. Ich wollte sie nicht an Ort und Stelle essen. Ich steckte sie in eine Tüte und wartete ganz ruhig darauf, dass ich aufwachte. Am Morgen war nichts in meinem Bett. Ich langte in die Tasche meines Schlafanzugs. Das Kleingeld war noch da. An all dem war Jenes Etwas an der Grenzkontrolle schuld, das grausam die schönsten Erinnerungen aus den Träumen verschlingt. Jenes Etwas, von dem ich gehört habe, dass man es Träumesindschäume nennt. Vielleicht heißt es auch so.

Ein Ehebruch in Sofia – und seine literarischen Folgen.

Ist ein Roman nicht das genaue Gegenteil von »Natur«? Ein Stück Natur wie etwa das hundertfach facettierte Auge einer Fliege, oder das sogenannte »natürliche Bedürfnis«, dem wir wohl oder übel im Klo nachgehen? – Der Erzähler dieses Buches aber möchte einen Roman, so natürlich wie der Alltag, schreiben. Oder auch ein Buch, das ausschließlich aus Anfängen besteht (und jedes Mal nach Seite 17 neu beginnt). Oder nur aus Verben.

Aber keine Angst: Was sich wie ein trockenes Übungsstück Postmoderne anhört, ist nicht nur originell und witzig, sondern steckt durchaus voller Leben. Der Erzähler ergeht sich in zahllosen Abschweifungen, Abschweifungen zur Form des Romans und zur eigenen Geschichte, zu Carl von Linné und zu Toiletten, zu Fliegen und zu Drohnen – und er hat gewichtige Gründe, sich in Abschweifungen zu verlieren: All diese Fragen nämlich, die sich rund um die für die Postmoderne zentrale Frage der Autorschaft erheben, drängen sich dem Erzähler unseres Romans in dem Moment auf, in dem ihm eröffnet wird, dass seine Ehefrau ihn betrogen hat und er nicht der Urheber ihrer Schwangerschaft ist.

Georgi Gospodinov hat mit dem Natürlichen Roman einen der erstaunlichsten und bewegendsten Romane rund um einen Ehebruch geschrieben – die Ehefrau heißt bezeichnenderweise Emma –, einen Roman, der, obwohl außerordentlich unterhaltsam, auf der Höhe literaturtheoretischer Debatten steht und gleichzeitig mit viel Sinn für Schabernack sein Spiel mit ihnen treibt.

Presse

»Ein funkelndes Kaleidoskop von Erzählungen, Parabeln, Kindheitserinnerungen und philosophischen Spekulationen.« (Wolfram Schütte, Deutschlandradio)

»Wie Georgi Gospodinov es schafft, die Geschichte eines Ehebruchs und die dem Stoff immanenten erzähltheoretischen Diskussionen (…) miteinander zu verschränken (…) das ist wahrlich Zauberwürfelmeisterkunst.« (Katharina Narbutovic, WDR)

»Ein kleines, raffiniertes Meisterwerk.« (Richard Kämmerlings, FAZ)

»Das Schönste an diesem Buch ist die Leichtigkeit der Sprache, ein fast schon plaudernder Ton und ein feiner, distanzierender Humor.« (Jörg Magenau, Literaturen)

»Eine atemberaubende Dichte (…) Es brennt unter den Nägeln. Zehnmal mehr als das, was die meisten deutschen Autoren zu Papier bringen.« (Elske Brault, NDR)

»Hochfliegende Pläne, lächerliche Bruchlandungen, gelehrte Kneipengespräche und innige Katzenliebe. (…) Gospodinov ist ein intellektuell-anarchistischer Humorist der Verzweiflung.« (Jörg Plath, Deutschlandradio)

»Je abseitiger die Reflexionen, umso erfrischender gestaltet sich die Lektüre (…) Selten war Untergehen so vergnüglich.« (Sebastian Fasthuber, Der Standard)

»Das Buch ist raffiniert, verspielt, abgründig – und souverän übersetzt ist es auch.« (Saarländischer Rundfunk, Christian Schuler)

»Ein bunter, sprachlich vergnügter und auch humorvoller Roman über die eigenen und historischen Zusammenbrüche und den Kampf gegen das Verschwinden.« (Manuela Lück, literaturkritik.de)

»An anarchic, experimental debut« (The New Yorker)

»Both earthly and intellectual« (The Guardian)

»A humorous, melancholy and highly idiosyncratic work« (The Times)

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