Buchcover
László Garaczi

Pikasso sieht rot

Erzählungen
2002
engl. Broschur , 15 x 21 cm
112 Seiten
Aus dem Ungarischen von Andrea Seidler und Pál Deréky.
ISBN: 9783854205999
€ 18,00

AUTOREN

Textauszug

Ich kam an einem Freitag nach Deutschland, einem 13. Am nächsten Tag stieß ich in der Mariannenstraße aus Versehen ein kleines, radfahrendes Mädchen um, der Vater wollte mich ohrfeigen, ich wiederholte rasch dreimal hintereinander aimsorri. Die Leute, die an der Ecke he­rumlungerten, waren eindeutig auf meiner Seite: Das ist doch nur ein doofer Tourist. Ein Vater aber denkt nicht so weit, wenn er Sorgen hat. Jursorri! rief er und zog das blutende Mädchen unter den Speichen hervor.
Der Türke in der Nachbarschaft heißt Erdem Malochi.
Das erste deutsche Wort, das ich lerne: Entfremdung. Das zweite: Holz. Die Sprache bleibt an mir kleben: rihtig, schmuzig, trozig, steeg.
Wer sind diese Deutschen und was wollen sie? Die Fußballfans verkleiden sich als Indianer und mexikanische Banditen, weshalb? Sie drücken dem Ei einen Stempel auf, der zeigt, wann die Henne es gelegt hat. Auf dem Flohmarkt verkaufen sie Bücher nach Gewicht, ein Kilo Bücher kostet sechs Mark, sie sind in Reih und Glied aufgestellt, sauber, nicht etwa wie Kraut und Rüben zusammengetragen. Besser so, als zu bluffen.
Im Park: zunehmende Verdichtung, im Hof: Wohnwagenlager der Autono­men. Zirkuswagen, Buden, wunderbares Chaos. Die Hunde plantschen zu­sammen mit den Kindern in einem riesengroßen Trog. Tätowierte Haut, schmale Brust, gefärbte Haare. Sie rauchen, sitzen im Dreck. Nachts schreien sie. Ich beobachte sie von oben, vom Turm aus.
Die andere Seite des Parks gehört den Türken, bei Sturmwind legen sie Feuer, Lammbarbecue. Sie schütteln sich im Sitzen die Hände, schütteln sie eigentlich gar nicht, nur die Fingerspitzen der nächstliegenden Hände berühren einander für einen Augenblick. Auf der WC-Wand verfluchen sie den deutschen Imperialismus: mit deutscher Farbe, auf deutschem Verputz, auf Deutsch.
Plötzliche Gänsehaut, dieselbe Luft, nur von anderem Charakter: deutscher Wind. Ich unterhalte mich ausdauernd auf Englisch mit einem sympathischen Alkoholiker, es stellt sich heraus, daß er Amerikaner ist. Tim. Er lebt seit 13 Jahren in Deutschland. Tim sagt, er wolle ab sofort nur noch saufen. Ich kann ihn gut verstehen, ich trinke auch wahnsinnig gerne, das ist das Größte überhaupt.

Wer László Garaczis Roman Die wunderbare Busfahrt kennt, ahnt, mit welchem Personal auch seine Erzählungen aufwarten werden. Die Raucher, Trinker und Fixer, die Nutten, Ganoven und Zuhälter und ihre tristen oder komischen, immer sehr vitalen Lebensumstände stehen in diesen kleineren und größeren Prosastücken im Mittelpunkt.

Mit seinem unverstellten anarchischen Blick in die Höfe und Wohnungen der ungarischen Hauptstadt, in die Gaststätten und Jugendtreffpunkte, steht Garaczi literarisch ziemlich allein da. Es ist die liebevolle Anarchie der Kindheit, die sich brennend für allerlei Abweichungen vom gesellschaftlich Geforderten interessiert, für das Unerlaubte und das Regellose. Die ungarische Gesellschaft der letzten 20 Jahre wird in diesen Texten auf verblüffende, sehr frische Weise sichtbar, auch wenn der Blickwinkel der eines Außenseiters ist, dessen manchmal surrealistisch anmutende Obsessionen sehr privat und abseitig zu sein scheinen. Garaczis prinzipielle Respektlosigkeit (»Das Genie des Wissenden ist ohne das Genie des Verstehenden wertlos!«) erzeugt auch einen entsprechenden unhierarchischen Stil: Gerade noch erzählt er ganz wohlgeordnet, plötzlich folgen die Sätze kunterbunt aufeinander, mal beschleunigt das Tempo enorm, mal kommt alles zum Stillstand – der Charme dieser Schreibweise ist beachtlich! Kein Wunder, dass László Garaczi zum Star der jüngeren Schriftstellergeneration in Budapest geworden ist.

Presse

»Sätze. Es hagelt Sätze. Zwecklos den Kopf vor ihnen einziehen zu wollen. Wer diese Sätze gelesen hat, will fortan mindestens so sprechen können.« (Frankfurter Rundschau)

»László Garaczi ist eine Art Gütesiegel für intelligente Unbekümmertheit.« (Stuttgarter Zeitung)

»Immer erzählt Garaczi wunderbar plastisch, erheiternd autoreflexiv und selbstironisch.« (Landshuter Zeitung)

»Tolldreist, anarchisch, komisch.« (WDR)

Garaczi hat sich »gleichermaßen von Kirkegaard wie von Rainer Werner Fassbinder, von Spinoza wie von Quentin Tarantino anregen lassen.« (Joachim Dicks, NDR 3)

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