Buchcover
Dorothea Dieckmann

Sprachversagen

2002
kartoniert , 11,5 x 18 cm
96 Seiten
ESSAY 46
ISBN: 9783854205937
€ 12,00

AUTOREN

  • Dorothea Dieckmann

Textauszug

Kaum hatte ich das Schreiben gelernt, versprach ich mir mehr davon als vom Sprechen. Was das Reden verriet, sollte das Schreiben bewahren. Die erste Regung, die ich vor der Vereinnahmung retten wollte, war die Wut. Denn Wut war Widerstand, und ich hatte erfahren, daß sie schnell verraucht (später beeindruckte mich eine Zeitlang der Satz von Brechts Mutter Courage: »Ich sag nur, Ihre Wut ist nicht lang genug, mit der können Sie nichts ausrichten, schad«); daß sie der Unterhaltung diente und durch Über- und Wegreden getilgt wurde. Ich hielt sie fest und schrieb sie auf einen Zettel, den ich mitten im Haus an die Tapete klebte wie eine chinesische Wandzeitung. Zwischen mich und meine Wut hatte ich die Geduld des Aufschreibens, zwischen mich und die Adressaten ein Stück Papier geschoben. Dabei hatte ich wohl gedacht, mich hinter der Schrift, in der ich mich eröffnete, verstecken zu können; denn obwohl kein Zweifel an meiner Urheberschaft bestehen konnte, fühlte ich mich ertappt, als mir die Mutter das Papier mit meinen ersten Zeichen unter die Nase hielt – und beifällig lachte.
Dies Urteil war ein Schock: Sie machte keinen Unterschied zwischen dem Reden und dem Schreiben. Sie kassierte die Worte wie immer – typisch, wie sich das Kind aufführte! – als kämen sie nicht aus einer anderen Zeit, nicht von einem anderen Ort, nicht aus dem Off. Meine Tarnkappe, mein Alibi hatten nicht funktioniert. Ich hatte geglaubt, aus den Maschen der Anerkennung schlüpfen und dem Beifall entkommen zu können, der meinem Reden so widerstandslos zuteil wurde, daß auch der Widerstand hinter den Worten gebrochen wurde. Daß das Schreiben mit dem alltäglichen Applaus bestraft wurde, war eine grausame Enttäuschung. Ich hatte den Zettel aus der Hand gegeben und mich durch die Veröffentlichung um die Wirkung des Schreibens, die Abgrenzung betrogen. Wieder hatte man in der Abweichung die Anpassung erkannt. Das Papier war zum Requisit der Inszenierung geworden.

»Das Wort ist tot, und in seiner Hülle lebt, von seinem Sinn ernährt, als falsche Natur die Phrase.« Die mündliche Rede plappert, man nimmt ihr das nicht übel, der Sprechakt als live-act ist reines Geschehen. Aber dass die Literatur vielfach auf dasselbe Niveau herabgestiegen ist, nimmt Dorothea Dieckmann zum Anlass, wieder an einstige Ansprüche zu erinnern: Ingeborg Bachmann und Kafka werden zu ihren Kronzeugen, wenn sie der allgemeinen Beliebigkeit des unterhaltsamen und mediengerechten Vorsichhin­plauderns das Verstummen der dichterischen Stimme gegenüberstellt. »Worte zu machen, ohne Worte zu machen, zu schreiben, ohne ein Sterbenswort zu sagen«, das wäre die Aufgabe der Kunst: das nächtliche Dunkel zu erhellen, ohne es an den Tag zu verkaufen, vom Verborgenen zu handeln, ohne es zu verraten. Die Schnelligkeit aber, mit der der Markt nicht nur die Kunstwerke selbst in seine Zirkulation hineinholt, sondern auch die Wörter entwertet, die Sätze auf den Strich schickt, ist beängstigend und alarmierend.

Dorothea Dieckmann hat mit Sprachversagen einen klugen, unerschrockenen Essay geschrieben, unerschrocken im genauen Hinsehen, unerschrocken auch im genauen Benennen. Wie kann man auf den »wahren Sätzen« (Bachmann) beharren, wenn wir modernen interaktiven Individuen in einer Kultur leben, in der Indifferenz an die Stelle der Differenz getreten ist und der Begriff Literatur auch oft nur mehr den schalen Geschmack eines ›bedeutungsvollen‹ Ornaments hat?

Presse

»Ein fulminanter Text (…) Man nickt, man staunt, bewundert« (Reinhard Baumgart, Die Zeit)

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