Buchcover
Victor Segalen

Stelen

frz./dt.
2000
gebunden , 17 x 25 cm
256 Seiten
Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Rainer G. Schmidt.
ISBN: 9783854205401
€ 31,00

AUTOREN

  • Victor Segalen

Textauszug

HULDIGUNG AN DIE VERNUNFT

Ich neidete den Menschen die Vernunft, die sie als zu wenig fehlbar erklärten; und um deren Ende zu ermessen, habe ich in Vorschlag gebracht: der Drache besitzt alle Fähigkeiten; er ist zugleich lang und kurz, zwei und einer, abwesend und anwesend – und ich erwartete ein großes Gelächter unter den Menschen – aber
Sie haben geglaubt.
Ich habe dann einen Erlaß verkündet: daß der unerforschliche Himmel einst wie eine Sternenblume geborsten sei und seinen Pollen der Sommer, Monde, Sonnen und Momente auf den Grund der Großen Leere geschleudert habe:
Sie haben einen Kalender gemacht.
Ich habe entschieden, daß alle Menschen von gleichem Wert seien und von gleicher Leidenschaft – unschätzbar beides – und daß man besser das beste seiner Lastkamele töte als den hinkenden Kameltreiber, der sich dahinschleppt. Ich hoffte auf einen Verneiner – aber
Sie haben ja gesagt.
Dann ließ ich es im ganzen Reich anschlagen, daß dieses nicht mehr existierte und daß das Volk, von nun an Souverän, sich selbst zu ernähren habe, daß die abgeschafften Ruhmeszeichen wieder bei Eins anfingen:
Sie haben wieder bei Null angefangen.

Dann habe ich, zum Dank für ihr Vertrauen und ihrer Leichtgläubigkeit zu Diensten, verkündet: Ehret die Menschen im Menschen und das Übrige in seiner Verschiedenheit.
Und ausgerechnet dann haben sie mich als Träumer bezeichnet, als Verräter, als Regenten, den der Himmel seiner Stärke und seines Thrones benommen habe.

Stelen: hochaufgerichtete, eine Inschrift tragende Steindenkmäler, auf die man in China allenthalben stößt, an den Straßenrändern, in Tempelhöfen, vor Grabmälern. Die Schriftzeichen darauf – Dekrete des Himmelssohnes, Huldigungen des Herrschers, Hymnen auf das Reich, Preisungen der Lehre – sind, wie alle Texte des klassischen Chinesisch, ohne Kommentare schwer verständlich.

Segalen, der auf seinen Reisen kreuz und quer durch das China der Mandschu-Kaiser das ›Reich der Mitte‹ gerade im Umbruch erlebte, schrieb mit den Stelen seine wichtigste poetische Arbeit, Gedichte, die den Gestus der chinesischen Epigrafen wiederaufnehmen und gleichzeitig unterwandern. In einem archaischen, gänzlich unpsychologischen Stil entwirft Segalen das Kondensat eines »chinesischen Denkens« und schafft damit, Jahrzehnte vor Michel Leiris, ein zentrales dichterisches Denkmal für eine bestimmte Sensibilität dem Fremden, dem Anderen gegenüber.

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