Buchcover
Ferenc Szijj

Sturzlicht

Zwei Bücher zu langen Unfällen
2005
engl. Broschur , 15 x 21 cm
80 Seiten
Aus dem Ungarischen von Andrea Seidler und György Buda
ISBN: 9783854206774
€ 19,00

AUTOREN

Textauszug

Als meine Mutter einmal für einige Zeit verrückt wurde:
ich war noch ein Kind ein Schüler der Unterstufe:
ich weiß nicht wie es begann ob es davor
Anzeichen gegeben hatte: ich weiß nur es war
mitten in der Nacht wir schliefen zu dritt
auf dem großen Sofa drei Buben
ich der Mittlere am inneren Bettrand da kam sie herein
drehte das Licht auf und fing an zu sprechen:
sie kam herein so plötzlich und sah aus
als wäre ihr etwas in den Sinn gekommen etwas das sie erzählen musste
das nicht bis zum Morgen Zeit hat:
sie setzte sich ins Bett zwischen mich und meinen Bruder
und sprach in einem fort: war es Winter oder Sommer
ich weiß es nicht matter Lichtschein: ich erinnere mich nicht
daran was sie sagte sie wiederholte öfter:
»auf dem Meer des Lebens« irgend etwas offenbar ein Schiff
es schwimmt vielleicht: sie sprach darüber als wäre es
eine Selbstverständlichkeit: ich erinnere mich wie ich mich
innerlich dagegen wehrte so ein Gemeinplatz:
sie wurde traurig apathisch erschöpft
aber sie hörte nicht auf zu reden konnte nicht
aufhören wiederholte die Dinge mehrmals:
ich hatte Angst wir alle drei: unser Vater
war offenbar nicht zu Hause war im Dienst:
er war Eisenbahner Lokomotivführer er arbeitete
nach Dienstplan oder der Bote holte ihn wann immer nötig
ab in der Nacht sah er zum Fenster hinaus und
der Bote rief ihm die Zugnummer zu:

Ferenc Szijj gehört zu den Einzelgängern der ungarischen Literatur. Seine Erzählungen und Gedichte sind düster, melancholisch, die Orte seiner Literatur sind unspektakuläre, vergessene Stätten; Trost bieten dem einsamen Ich weder die städtischen Vergnügungen noch die Natur und schon gar nicht die Erinnerungen.

Die beiden zusammenhängenden Bände von Sturzlicht, im Original im Abstand von zwei Jahren publiziert, enthalten lange Gedichte in Prosa und in Versen. Erinnerungen an eine Kindheit am Land, an die Weingärten, an den Provinzbahnhof, die tödlichen Unfälle, die nacheinander die Eltern und den Bruder aus dem Leben reißen, die Schwierigkeiten, sich gegen Widerstände zu erinnern.

Ferenc Szijj gehört zu den radikalen Stimmen der zeitgenössischen Literatur. Die Welt, von der er spricht, das sind Großaufnahmen von Straßen, Feldern, Bahnsteigen, halberinnerte Kindheitsbilder, Begegnungen, unsichere und oft unscharfe Bilder von Ereignissen und Gegenständen außerhalb unseres Fokus.

Die Familiengeschichte, die Geschichte zufälliger Unfälle, sinnloser Tode, wird mit geringsten Mitteln erzählt, aber mit größter Genauigkeit, ohne Klage, ohne Selbstmitleid, sogar den wohligen Genuss der Melancholie versagt sich dieser Text. Szijjs Literatur ist eine Absage an alle Rhetorik, an alle Ästhetik, die von einer abgerundeten, vollkommenen Form ausgeht.

Presse

»Ein grandioses Mosaik aus Detailbeobachtungen, Erinnerungen, Reflexionen, mit weitem Atem und dem Charisma der Genauigkeit.« (Ilma Rakusa, Die Zeit)

»Unwägbarkeiten und Beunruhigungen auf allen Ebenen « (Joachim Sartorius)

»Beim Duschen geriet ich ins Sinnieren heißt es an einer Stelle, und dieses Sinnieren, das ein Ich einer beständigen Verunsicherung aussetzt, macht die Identität des Bandes aus.« (Anton Thuswaldner, Salzburger Nachrichten)

»Ein einfaches, kompliziertes, puritanisches, sachliches, persönliches, erschütterndes Buch.« (Eszter Kovács)

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