Buchcover
Michel Leiris

Tagebücher 1922–1989

1996
gebunden , 20 x 26 cm
640 Seiten
Aus dem Französischen von Elfi Friesenbiller und Chantal Niebisch.
ISBN: 9783854204282
€ 89,00

AUTOREN

Textauszug

Ich könnte niemals wie Artaud sagen, »um mich von dem Urteil der anderen zu befreien, habe ich den ganzen Abstand, der mich von mir selbst trennt.« Ich weiß allzu gut, wie leicht man sich täuschen kann und bis zu welchem unvorstellbaren Maß der letzte kleine Schwachkopf dazu neigt, sich wie ein Mann mit Genie darzustellen.

Führt man ein Tagebuch, dann liegt die Hauptschwierigkeit darin, daß man sich in jedem Augenblick von der Literatur hinreißen läßt. Man sollte sich nicht einmal darum kümmern, einen Satz zu konstruieren. Nicht so tun, als betrachte man sich in einem Spiegel. Es geht nicht darum, sein Portrait in voller Größe zu malen, man muß seine Kräfte einschätzen können und versuchen, daraus dann selbst die kleinsten Möglichkeiten zu erschließen.

(Ich könnte eine sehr scharfe Kritik über die vorherige Seite schreiben, denn diese Seite stinkt von vorn bis hinten nach Größenwahn. Ich beschränke mich darauf, es für mich anzumerken, aber ich will trotzdem nicht mit diesem entmutigenden Eindruck schlafen gehen. Ich fahre in dem Maß im Dreck fest, wie ich Verbesserung um Verbesserung hinzufüge.)

Wenigstens soll mir diese vorherige Seite dazu nützen, daß ich eine wirklich sehr groteske und sehr niedere Art von Haltung satt bekomme! Genug Literatur … Ich habe das sehr unmißverständliche Gefühl, daß ein Zauber zerbrochen ist.

(Eintragung vom April 1929)

Das Buch dokumentiert nicht nur die Entwicklung einer herausragenden Figur der europäischen Intellektuellen-Szene, sondern darüber hinaus auch ein Jahrhundert im Spiegel eines Beobachters und Akteurs, von den surrealistischen 20er Jahren über die deutsche Besetzung von Paris und den Existenzialismus bis in die Gegenwart.

Wenn es in unserem Jahrhundert einen Montaigne gegeben hat, dann in Michel Leiris, urteilte Jean Starobinski. Mit Mannesalter erfand er für seine Generation das Genre Autobiografie neu, in einer Mischung aus psycho-analytischer Allegorie und surrealistischer Montage, und mit der Tetralogie Die Spielregel führte er die Bekenntnisliteratur über das Literarische hinaus zu einer »Oper des Selbst« (Rimbaud), deren Arien und Rezitative sich um ein verschwindendes Subjekt sammeln.

Der Rohstoff all dieser konzentrierten Erkundungen, Forschungsreisen an den Ort des ›Ich‹, waren Notizhefte, die Leiris von 1922 bis 1989 führte. Er hielt in diesen Heften alles fest, was ihn bewegte: das politische Leben genauso wie seine Träume (aus denen später sein Buch Lichte Nächte und manch dunkler Tag, 1945, hervorging), Gespräche mit Künstlerfreunden (von André Breton bis Simone de Beauvoir) und ethnografische Gedankengänge ebenso wie sein Eheleben mit ›Zette‹ (Louise Godon), die im Übrigen so etwas wie der rote Faden durch Leiris’ Autobiografie ist und nach deren Tod seine Eintragungen versiegen.

Presse

»Wenn ich die großen Tagebücher der literarischen Moderne aufzählen soll, gehört Michel Leiris mit seinem Journal von nun an unbedingt dazu.« (Hansjörg Graf, Die Zeit)

»Ein Buch, in dem man sich blätternd und lesend selbst verliert.« (Verena Auffermann, Focus)

»Eines der maßgeblichen Dokumente unserer Zeit« (Dirk Knipphals, DS)

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