Buchcover
Henri Michaux

Wer ich war

Das frühe Werk
2006
engl. Broschur , 15 x 21 cm
208 Seiten
Aus dem Französischen von Paul Celan, Kurt Leonhard und Dieter Hornig.
ISBN: 9783854207023
€ 23,00

AUTOREN

Textauszug

Technik des Sterbens im Bett
(Wie man seine Seele nach dem Bild des Körpers formt und wie man sie freiläßt)

Es ist möglich, aus sich herauszutreten.
Madame X … hatte die Angewohnheit, in Ohnmacht zu fallen, kam wieder zu Verstand und mit einer schönen Lüge zu sich. Eine ausgezeichnete Übung als Vorbereitung auf den sogenannten letzten Tag!

Das Sterben ist tatsächlich sehr schwierig. Man muß nämlich seine ganze Seele über dem Körper formen, und zwar vollständig und vollkommen, die Armlosen mitsamt ihren Armen und die Herzkranken mitsamt ihren völlig dichten Mitralklappen. Ein unvorhergesehener Pulsschlag, und schon muß man noch einmal von vorn anfangen. Die meisten Menschen, die ich in ihren letzten Tagen erlebt habe, waren jedoch ratlos, wälzten sich von der rechten auf die linke Seite, strampelten ihre Decken ab und versuchten, die Seele entweder durch die Brust oder durch den Kopf austreten zu lassen. Ich habe einen ahnungslosen Sterbenden gekannt, der fünf Tage brauchte, um sich ein Bein zu formen. Er litt tatsächlich, er wollte so gern tot sein. Der arme Kerl!
Meine Großmutter starb wunderbar. Sie saß in ihrem Lehnstuhl und stickte, sie legte ihr Stickzeug in ihren Schoß und sagte: «Kinder, das ist meine letzte Masche», atmete zum letzten Mal tief und wohl kalkuliert aus und war tot.

Obwohl Michaux später seine Anfänge zu verbergen suchte und sie mit wechselnder Konsequenz aus seinem Werkkatalog tilgte – dem ihn verehrenden Paul Celan erlaubte er allerdings eine auszugsweise Übersetzung seines ersten Buches von 1927 –, kann man mittlerweile doch vielen seiner Spuren der 20er Jahre nachgehen. Nach den ersten Reisen, die den 21-jährigen Matrosen Michaux nach Nord- und Südamerika, Indien und China führten, lebte er wieder in seinem gehassten Brüssel, wo er zu schreiben begann und ab 1923 in der Zeitschrift »Le Disque Vert« (hrsg. v. Franz Hellens) regelmäßig publizierte: Rezensionen, Essays, Beiträge zu Chaplin und Freud – Arbeiten, die seine wichtigen späteren Themen und sein Interesse am Traum, am Fremden, an ›anderen Zuständen‹ beispielhaft enthalten.

Der vorliegende Band macht nun erstmals diese frühen Texte, seine erste selbstständige Publikation Die Träume und das Bein und vor allem die komplette Sammlung von Wer ich war vollständig zugänglich.

Schon für sein frühes Werk gilt, was Octavio Paz in einem großen Aufsatz über Michaux festhielt: »Die außerordentliche Spannung der Sprache Michaux’ rührt daher, dass ihre ganze stählerne Kraft von einem Willen gelenkt ist, der auf die Begegnung mit etwas abzielt, das das Unwirksame par excellence ist: den Zustand des Nichtwissens, das das absolute Wissen ist, das Denken, das nicht mehr denkt, weil es mit sich selbst eins geworden ist, die unendliche Transparenz, der unbewegliche Strudel.«

Presse

»Mit dem Reichtum an Ideen allein in einem dieser kurzen Texte würde andere Autoren ein Lebenswerk bestreiten.« (Christoph Leitgeb, Der Standard)

»Ein staunenswertes Sammelsurium, ein Buch wie eine Hosentasche voller Sterne.« (Ralph Dutli, Literaturen)

»Furios, fremdartig und geheimnisvoll.« (Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurter Rundschau)

»Raffiniert gearbeitet, voll von kaustischem Witz, der von tieferer Bedeutung nicht leicht zu unterscheiden ist.« (Helmut Mayer, FAZ)

»Eine furiose, stark vom Surrealismus geprägte Textfolge.« (NZZ)

»Der junge Michaux nimmt uns mit in jenes aberwitzige und doch bewundernswert kontrollierte Universum, das die magische Kraft seines Schreibens ausmacht (…) absolut faszinierend.« (Christine Lecerf, Arte)

»Sprach-schamanische Annäherungen an die Geheimnisse der Schöpfung mit den Mitteln der Sprache (…), warum wir sind, und was es heißt, zu sein.« (Robert Leiner, Bücherschau)

Top